Neues Buch

Eis nach der Mandel-OP - eine Kindheit als Chronik Mannheims

Geschichten, Geräusche und Gerüche: Eine Chronik Mannheims in den 1950er und 60er Jahren hat Schrifstellerin Nora Noé verfasst. Eine Zeit, in der die Stadt  "international" wurde und ein gewisses Kino Jugendliche magisch anzog

Von 
Helga Köbler-Stählin
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Nora Noé. © Privat

Weißt du noch … das Kinderkarussell … der erste Schultag … unsere Klamotten … die Mess’ … vielleicht sogar der erste Kuss? Es ist eigentlich egal wo man aufgewachsen ist, bei einem Plausch über Kindheit und Jugend blühen herrliche Geschichten auf! Bei Nora Noé, der „waschechten Mannheimerin“ stehen natürlich Erinnerungen in und um ihre Heimatstadt im Vordergrund.

„Aufgewachsen in Mannheim in den 50er & 60er Jahren“, heißt ihr aktuelles Buch und viele Leser werden bei Noés Reise durch die Zeit gerne mit ihr zurückblicken. Die Chronik beginnt 1950, der Krieg war erst fünf Jahre zu Ende, und 1952 gab das statistische Bundesamt bekannt, dass 7465 Mannheimer gefallen waren. Dass Kriegswitwen ihre Kinder unter schweren Bedingungen alleine aufziehen mussten ist eines der Themen im Buch, aber auch, dass „farbige Besatzungskinder“ geboren wurden, deren Mütter und sie selbst von der Gesellschaft lange diffamiert wurden.

Der gebürtige Waldhofer Charly Graf, der später Deutsche Meister im Schwergewicht werden sollte, ist einer von ihnen, den Nora Noé erwähnt und mit dem Nachbarskind Harry, dessen Puerto Ricanischer Vater sich aus dem Staub gemacht hatte, pflegte sie bis zu seinem Tod eine innige Freundschaft.

Doch egal welche Hautfarbe die Kinder hatten, Kinderkrankheiten bekamen sie alle. Die wurden mit Ritz oder Schluckimpfungen, mit „Sanostol“ und Hausmittelchen verarztet und manche kurierten sie im Kindererholungsheim aus. Und das besonders Gute war, so schreibt Noé, dass es nach einer Mandel oder Polypen-Operation eine Kugel Eis von Fontanella als Belohnung gab.

Zeitzeugen befragt, Fotoalben durchsucht, Schriftstücke gewälzt

Es gibt vielerlei zu lesen und, im mit 80 Fotos reich bebilderten Buch, auch viel zu schauen. Als der Wartberg-Verlag bei Nora Noé im Dezember vergangenen Jahres anfragte ob sie eine solche Chronik über Mannheim schreiben wolle, sagte sie sofort ja. Innerhalb eines halben Jahres sollte das Buch allerdings fertig sein. Das war sportlich, meint sie.

Die Schriftstellerin befragte über 30 Zeitzeugen, Freunde, Bekannte, Familie, blätterte in Fotoalben, wälzte Schriftstücke und sog auf, was ins Buch einziehen sollte. „Eine ganz besondere Fleißarbeit war die Recherche im Marchivum“, sagt Noé. Alle Daten mussten überlesen werden, denn nur so konnte sie filtern, das herausschreiben, was für die Stadtgeschichte wichtig erschien. Zum Beispiel, dass im Juli 1961 das Diakonissenkrankenhaus eingeweiht wurde, oder 1963 das Elisabeth Gymnasium das 100-jährige Bestehen der Höheren-Töchterschule feierte.

Jahrzehnte, in den Mannheim international wurde

Ein Jahr später wurde sie, das kleine Mädchen aus dem Jungbusch, selbst dort aufgenommen. Neben Stadtgeschichtlichem erfährt man auch in diesem Buch viel über das Leben der Schriftstellerin selbst. Immer im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen oder kulturellen Besonderheiten der Stadt. Und immer so, dass man sich in den Erzählabschnitten selbst darin finden kann. Und die, die noch gar nicht geboren waren, werden staunen können, wie die Zeit der Eltern oder Großeltern gewesen war.

Es war die Zeit in der Mannheim „international“ wurde. In der „Gino, Costa, Mirco, Mehmed, Carmen oder Mirta“ in die Nachbarhäuser einzogen. Aber auch die, in der 1966 eine „Vietnamkrieg-Demonstration des Mannheimer Aktionskomitees“ an der Kurpfalzbrücke Bürgerengagement zeigte oder 1967 die gebürtige Mannheimerin und Operndiva Anneliese Rosenberger im Nationaltheater in Figaros Hochzeit gastierte.

Und die Gleichberechtigung für Frauen? Sie lag noch im Argen. Noch durften Mädchen keine Hosen tragen, sollten, so meinte mancher Arbeitgeber, ihr langes Haar hochstecken, und Sex, das „schmuddelige Wort“, war ein großes Tabu. Die Jugendlichen schlichen ins „Müllerle“, ein Kino in der Neckarstadt, schreibt Noé, wo Filme von Oswald Kolle die Neugierde stillten.

Ein damals 16-jähriges Mädchen namens Katharina, das im Buch zitiert wird, hat sich ein wenig älter geschminkt und „Das Wunder der Liebe“ gesehen. Der Film war erst ab 18 Jahren zugelassen. Aber endlich erfuhr sie den Unterschied zwischen Sex und Petting. An der „Liebe“ änderte nicht nur die „1968er Bewegung“ einiges, sondern auch die Anti-Baby Pille, die damals auf dem deutschen Markt zugelassen wurde.

Die 64 Seiten, soviel waren vom Verlag vorgegeben, sei auch eine Reise in die eigene Vergangenheit gewesen, sagt Nora Noé, die im Dezember ihren 70. Geburtstag feiern wird. Die Recherche zu ihrer erfolgreichen Familiensaga über den Jungbusch „die eine große Hilfe war“, hatte sie noch präsent. Aber die authentischen Erzählungen der Mannheimer und Mannheimerinnen, die spannenden Begegnungen ließen viele wunderbare Augenblicke entstehen, so denkt sie zurück, „vermischt mit Geräuschen und Gerüchen aus unbeschwerten Zeiten.“

Freie Autorin Studium: Journalismus, Medien- und Pressearbeit-PR

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