Es ist der Gang in eine andere Welt. Zunächst führt der Weg in dem eindrucksvollen Gründerzeitgebäude das großzügige Treppenhaus hinauf, auf dem letzten regulären Stockwerk vorbei an Klassenzimmern, aus denen muntere Kinderstimmen zu hören sind. Doch dann, in einer Ecke, fast versteckt, eine stets verschlossene Tür. Durch sie geht es steil nach oben, auf hölzernen Stufen, durch einen riesigen leeren, doch gerade dadurch erst höchst eindrucksvollen Dachstuhl, schließlich auf einer noch kleineren und engeren Treppe hinauf, durch eine Luke, ins Freie.
Nun steht man auf dem Dach der Rheinauschule im Herzen des südlichsten Stadtteils von Mannheim. Eine Location, mit Sicherheit eine der interessantesten im gesamten Vorort, damit fast schon eine Besucherattraktion. Doch aus Sicherheitsgründen für die Öffentlichkeit natürlich absolut tabu. Es ist das Quartiermanagement dank seiner engagierten Mitarbeiterinnen Christiane Rudic und Laura Wolf, das dem „MM“ diesen in der Tat einmaligen Blick über Rheinau ermöglicht.
Und so sieht man altbekannte Gebäude aus einer ganz neuen Perspektive. Die Versöhnungskirche am Marktplatz etwa und links von ihr das Gebäude der VR Bank, der frühere Ratskeller. Genau in entgegengesetzter Richtung das Hafengebiet mit seinen großen Firmen. Direkt unterhalb, zur Linken, die Baustelle für den neuen Mehrgenerationenspielplatz. Und so erkennt man, wie großzügig er eigentlich ist. Im Blick auch die aus der Gründerzeit der Rheinau stammenden Mietshäuser mit ihren Hinterhöfen; erst, ja eigentlich nur von hier oben, sind sie so richtig zu ermessen.
Doch das Türmchen der Rheinauschule - es ermöglicht nicht nur einen Blick von oben auf den Stadtteil, sondern lädt auch ein zu einem Blick in die Geschichte dieser Location. Und diese beginnt zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Damals ist die Bevölkerung der erst 30 Jahre zuvor gegründeten Industriearbeitersiedlung auf 2400 Einwohner angestiegen. 200 davon sind Kinder und Jugendliche, die der Schulpflicht unterliegen. Bisher werden sie in einem Gebäude in der Relaisstraße, dem späteren Kinderheim, unterrichtet. Doch das reicht nun nicht mehr aus.
1904 entsteht ein größeres Gebäude, die Hildaschule - jener Teil der heutigen Rheinauschule, der nach Norden in Richtung Dänischer Tisch zeigt. Noch heute sind an der Fassade die Zeugnisse der damaligen Zeit erhalten. So etwa die elektrische Uhr, die auf ausdrücklichen Wunsch der Bevölkerung installiert wird. Denn Armbanduhren sind damals weitgehend unbekannt, Taschenuhren eher bei Wohlhabenden verbreitet und damit nicht in einem Arbeiterstadtteil wie der Rheinau.
Diese Sozialstruktur wird auch Ursache eines anderen Angebots: Die Schule enthält ein sogenanntes Volksbad. Eine Einrichtung, in der die Menschen duschen und baden können. Denn Badewannen oder Duschen sind in den kleinen Wohnungen der Mietskasernen im historischen Ortskern Rheinaus nicht vorhanden. 1968 wird dieses Brausebecken im Volksbad zubetoniert.
1908 erfolgt die erste Erweiterung der Schule. In entgegengesetzter Richtung mit Blick in die Plankstadter Straße entsteht die Victoriaschule; sie ist für Mädchen vorgesehen. Denn Jungen und Mädchen werden damals strikt getrennt unterrichtet. Damit es zu keinem Zusammentreffen der Geschlechter kommt, wird der Schulhof durch eine Mauer getrennt. Sie fällt erst 1968! Jahrzehntelang also beobachtet der Turm, wie sich Jungen und Mädchen neugierig fragen, was jenseits der Mauer ist.
1914 beschließt der Mannheimer Bürgerausschuss die nochmalige Erweiterung der Schule um einen repräsentativen Eingangsbereich. Am 17. Juni beginnen die Arbeiten, doch zehn Tage später fallen in Sarajewo folgenschwere Schüsse: Der österreichische Thronfolger wird ermordet, Anlass zum Ersten Weltkrieg. Der Bau wird eingestellt, erst 1919 fortgesetzt und 1920 beendet; seither verfügt die Schule über ihr eindrucksvolles Hauptportal und damit über ihr heutiges Aussehen.
Funktion im Krieg
Auch der 1939 begonnene Zweite Weltkrieg prägt die Geschichte dieses Gebäudes und vor allem seines Turms. Willi Steier, auf dem Pfingstberg als Schuhmachermeister tätig, ist einer, der hier bei Wind und Wetter Wache schiebt. Das Bild, das ihn in langem Mantel und mit Stahlhelm zeigt, lässt die unwirtliche Atmosphäre erahnen und die Einsamkeit, die hier oben zu erdulden ist.
Hier oben befindet sich auch die Sirene, die bei Fliegeralarm im Sirenenkasten des Rheinauer Rathauses ausgelöst wird. Der dortige Hebel wird bedient, sobald im Radio das Signal „Paula Dora 9“ ertönt. Dieser Code wird im Ernstfall regelmäßig wiederholt, unterbricht dann abrupt die zu hörenden Schlager, deren Titel wie „Heimat, Deine Sterne“ angesichts der alliierten Leuchtmarkierungen am Himmel eine makaber zweideutige Bedeutung bekommen. Noch heute gibt es hier eine Sirene - gut, dass sie nicht jetzt loslegt.
Ende März 1945 erlebt der Turm, wie die Amerikaner Rheinau besetzen und die Schule als Lazarett und Telefonvermittlungsstelle nutzen. Für den Unterricht steht sie nicht mehr zur Verfügung, der erfolgt in drei Gastwirtschaften in der Stengelhof- und in der Karlsruher Straße. Erst an Ostern 1947 können die Schüler ihr altes Domizil wieder beziehen - aber immer noch nicht zur Gänze: Das oberste Stockwerk bleibt lange vermietet, an die Textilhandlung Laube.
Mehr Platz in den 1980er Jahren
Bildung, und zwar in Bezug auf Information zur Stadtteilgeschichte, haben sich auch Christiane Rudic und Laura Wolf auf ihre Fahnen geschrieben. Neben ihrer wichtigen Sozialarbeit wollen sie auch dies vorantreiben. „Das stärkt die Identifikation der Menschen mit ihrem Stadtteil“, sagt Rudic: „Und das ist die Voraussetzung für Engagement.“
Neben der Dokumentation der jetzigen Turmbesteigung plant das Quartiermanagement daher Stadtteilrundgänge und Firmenbesuche bei Rheinauer Unternehmen sowie Vorträge zur Geschichte, wie im April (genauer Termin wird noch festgelegt) in der Valentin-Gremm-Halle über „150 Jahre Rheinau“. Da jener Valentin Gremm nicht nur Vorsitzender des Turnvereins war, sondern auch viele Jahre Rektor der Rheinauschule, schließt sich der Kreis zum Turm der Rheinauschule.
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