Geschichte

„Wilder Streik“ verfehlt sein Ziel

Der erste große Massen-Arbeitskampf in der deutschen Chemieindustrie wurde in Ludwigshafen gekämpft - er endete jedoch vor 100 Jahren mit einer Niederlage.

Von 
Jasper Rothfels
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Vor dem Haupteingang des BASF-Stammwerks gedenken im September 1922 Arbeiter der Opfer des Explosionsunglücks in Oppau im Jahr zuvor. © Stadtarchiv Ludwigshafen

Ludwigshafen. Von vorweihnachtlicher Stimmung ist in Ludwigshafen und Umgebung im Dezember vor 100 Jahren nicht viel zu spüren. Die Atmosphäre ist aufgeheizt, denn es wird gestreikt. Das gilt für die beiden Werke der Badischen Anilin- & Sodafabrik (BASF) in Ludwigshafen und Oppau und für zwölf andere Firmen - insgesamt sind 36 000 Arbeiter im Ausstand.

Nach Angaben des Vize-Leiters des Stadtarchivs Ludwigshafen, Klaus Jürgen Becker, ist es der erste große Massenstreik in der chemischen Industrie in Deutschland. Sogar im Ausland findet er Beachtung. Becker ist aufgefallen, dass der Streik und manche Großdemonstration jener Zeit „aus der Erinnerungskultur nahezu völlig verschwunden“ sind - - anders als andere Daten wie etwa die Stadtgründung oder das Explosionsunglück bei der BASF 1921. Dabei hätten auch solche sozialen Ereignisse große Bedeutung, sagte der Historiker kürzlich in einem VHS-Vortag.

Erster Massenstreik der chemischen Industrie

Am Streik beteiligen sich Historikern zufolge die Belegschaften der wichtigsten Ludwigshafener Industriebetriebe, vor allem der Chemieunternehmen BASF (mit 21.140 eigenen Arbeitern und 11.500 von sogenannten Fremdfirmen), Giulini (1500), Dr. Raschig (500) und Benckiser (170).

Auch Mitarbeiter von Unternehmen der Metallindustrie sind dabei, etwa von den Eisengießereien Ruppel (320) und Roth (250) sowie von dem Brunnenbauer Bechtel (250).

Eines habe die Streikenden allerdings voneinander unterschieden, sagt der stellvertretende Leiter des Ludwigshafener Stadtarchivs, Klaus Jürgen Becker: Die Mitarbeiter der Chemiebranche vom Fabrikarbeiterverband erhielten kein Streikgeld. Dies hatte zwei Gründe: Zum einen lehnte der Verband den „wilden Streik ab, und er verfügte außerdem nicht über genügend Mittel. Die streikenden Metallarbeiter erhielten hingegen Streikgeld vom Deutschen Metallarbeiter-Verband. jar

Den dreiwöchigen Streik kennzeichnet, dass es ein „wilder Streik“ ist, also einer, den die zuständigen Gewerkschaften nicht anerkennen. Und er verfehlt sein Ziel: Er bringt den Arbeitern weniger statt mehr Rechte. „Sie mussten die von den Direktoren diktierten Bedingungen annehmen“, schreibt Jeffrey Allan Johnson in „Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte“.

Unter anderem wird das umstrittene Akkord- und Prämiensystem auf weitere Bereiche ausgedehnt, Sonderregelungen zu Pausen und Waschzeiten für bestimmte Arbeiter entfallen, und die Institution der Vertrauensleute wird abgeschafft. „Die Belegschaft verlor in Bezug auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen die letzten weiterreichenden Privilegien“, so Dieter Schiffmann in seinem Werk „Von der Revolution zum Neunstundentag. Arbeit und Konflikt bei BASF 1918-1924“.

Radikalisierung der Arbeiter

Dem Streik gehen einige Auseinandersetzungen voraus. Viele Menschen sind arm und leiden zusätzlich unter Inflation und Preiserhöhungen. In der BASF wird gestohlen. Johnson sieht auf beiden Seiten „ein Klima wachsender Gewaltbereitschaft“. 1920 werden Direktionsgebäude besetzt. Als die Mitarbeiter der Gasfabrik im Oppauer BASF-Werk im Oktober für eine Erhöhung ihrer Gesundheitszulage streiken, werden alle 8700 Arbeiter entlassen. 6000 dürfen wieder kommen, beim Rest nutzt das Unternehmen laut Schiffmann einen Spielraum, um Missliebige „auszusieben“.

Explosion radikalisiert die Arbeiter

Die Explosion im Oppauer BASF-Werk, bei der im Folgejahr 561 Menschen sterben, trägt Becker zufolge „massiv“ zur Radikalisierung der Arbeiter bei. Die meisten machen laut Johnson das System der Akkordarbeit mitverantwortlich für das Unglück, dessen Ursache nie restlos geklärt wird. Als die BASF am 27. November 1922 drei kommunistische Betriebsräte entlässt, die gegen den Willen des Unternehmens zu einem von der KPD organisierten Reichsbetriebsrätekongress gereist sind, stehen die Zeichen auf Streik.

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Der scheint Schiffmann zufolge ohnehin in der Luft zu liegen - weil der parlamentarische Untersuchungsausschuss zum Oppauer Unglück dem Prämien- und Akkordsystem keine ursächliche Bedeutung beimisst, weil Lohnverhandlungen stocken und weil die BASF laut einem Gerücht vom Acht- zum Zehn-Stunden-Tag wechseln will. Erst das Zusammentreffen mehrerer solcher Konfliktlinien mache deutlich, weshalb sich der Streik an der Entlassung der Betriebsräte habe entzünden können, so Schiffmann.

Entlassungen und ein Ultimatum

Am 28. November ruht bei der BASF in Oppau schon die Arbeit, während im Stammwerk noch der Betrieb läuft und die Vertrauensleute sich besprechen. „Radikale, jugendliche Elemente“ streuen das Gerücht, die Vertrauensleute hätten den Streik beschlossen - ein Vorgang, der Schiffmann an den Oktober 1920 erinnert: Kleine, entschlossene Gruppen verschärften eigenmächtig den Konflikt, „ohne einen verbindlichen Beschluss eines legitimierten Betriebsgremiums“. Als viele daraufhin die Arbeit niederlegen, droht das Unternehmen allen Arbeitern mit Entlassung und stellt ein Ultimatum.

Die soziale Katastrophe wurde immer größer

Die große Werksversammlung beschließt nachmittags, dass am 29. November wieder gearbeitet wird - wenn die Kündigungen zurückgenommen werden. Doch die Direktion bleibt hart. Noch am 28. November sichert eine Versammlung von Vertrauensleuten aus 24 Ludwigshafener Betrieben den Anilinern Unterstützung bei einem Streik zu. Danach entscheidet laut Schiffmann eine Zusammenkunft von BASF-Vertrauensleuten, am 29. November den Streik auszurufen.

Familien darben

Der ist laut Becker „von Anfang an unterfinanziert“. Es gibt kein Streikgeld, die Familien darben. Spenden, auch aus dem Ausland, reichen nicht und verlieren schnell an Wert. „Die soziale Katastrophe wird immer größer“, so Becker.

Als die Streikleitung am 19. Dezember den Abbruch vorschlägt, haben schon 2000 Aniliner die neuen Einstellungsbedingungen akzeptiert, der Rest folgt bis zum 22. Dezember, etwa 1300 „Störenfriede“ müssen gehen. Das Konfliktpotenzial in der BASF bleibt vorerst. „Befriedet wird das Ganze tatsächlich erst mit dem Wirtschaftswunder nach 1948“, so Becker.

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