Geschichte

Stolpersteine in Ludwigshafen: Verein zeichnet Weg zweier jüdischer Familien nach

Die jüdischen Familien Hirschler und Schwarz wohnten einst im Ludwigshafener Süden und im Hemshof. In der NS-Zeit flohen sie ins Ausland. An ihre Geschichten wird jetzt mit sogenannten Stolpersteinen erinnert

Von 
Jasper Rothfels
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Der Brite Ben Hirschler streichelt einen „Stolperstein“, den er vor dem Haus Lisztstraße 117 in den Boden gesetzt hat. Dort lebte einst sein Vater. © Jasper Rothfels

Ludwigshafen. Als der 13-jährige Jude Franz Georg Hirschler aus Ludwigshafen 1938 am Tag nach der Reichspogromnacht in die Schule kommt, ist alles wie immer - zumindest für die Schule. Zwar hat Franz, der damals in Mannheim bei Verwandten lebt, auf der Straße Hausrat, verbrannte Möbel und mit anti-jüdischen Parolen beschmierte Fenster gesehen, doch im Karl-Friedrich-Gymnasium gibt es dazu keinen Kommentar, erinnert er sich im Alter. Für Franz, der sich später Francis nennt, ist dieser Tag einer seiner letzten in Deutschland - er flieht mit seiner Mutter über Norwegen nach England, wo sie seinen Vater und seine Schwester treffen - und für immer bleiben.

An ihr Schicksal erinnern seit Samstag vier „Stolpersteine“ vor dem Haus Lisztstraße 117, in dem die Familie lebte. Eingesetzt werden sie von Francis’ Kindern Ben und Susie sowie von den Kindern seiner Schwester Agnes Beate (später: Beatrice), Jonathan Knight und Corinna Perry. Bewegt gedenken sie ihrer Vorfahren. „Natürlich wäre keiner von uns heute hier, wenn sie nicht gegangen wären - in vielerlei Hinsicht“, sagt der 65-jährige Ben Hirschler. Und: Es sei schön, nach 85 Jahren die Anerkennung ihrer Geschichte zu erleben.

Grenzsoldat ignoriert Vorschrift

Vor dem Haus Prinzregentenstraße 65 im Hemshof verweisen seit Samstag Stolpersteine auf die Flucht des jüdischen Ehepaares Oscar und Therese Schwarz und des Sohnes Karl 1939. Karl, der danach in Frankreich im Versteck lebt, begegnet 1942 bei der versuchten Flucht in die Schweiz dem Guten in Gestalt eines Schweizer Grenzsoldaten. Der habe den 16-Jährigen und zwei Gleichaltrige ins Land gelassen, obwohl sie laut Vorgabe eigentlich ein Jahr zu alt gewesen seien, sagt Schwarz’ Sohn Ron, der mit Bruder Larry aus den USA angereist ist. „Er rettete ihr Leben.“

Karl Jonathan Hirschler und Joseph Hirschler © Privat

Es habe viele Menschen gegeben, Nicht-Juden, die unglaubliche Dinge getan hätten, um Juden zu retten. „Er ist ein großes Beispiel dafür.“ Die Zeremonie, die allgemein Aufmerksamkeit erregt, wird von der Deutschen Pfadfinderschaft Sankt Georg, Stamm Herz Jesu, gestaltet. Die Stolperstein-Aktion für Familie Hirschler begleiteten Geschichte-Leistungskursler des Geschwister-Scholl-Gymnasiums.

Der Leiter des Stadtarchivs, Stefan Mörz, erinnert zuvor daran, dass die Juden die mit Abstand größte Opfer-Gruppe der Nationalsozialisten waren. „Wir haben einen Verlust erlitten“, sagt Mörz. „Den Verlust so vieler Menschen, die für unser Land von großem Nutzen gewesen wären.“ Einer der Hauptvorteile der Stolperstein-Aktion sei es, dass sie Menschen zusammenbringe: diejenigen, die vielleicht heute hier leben würden, nun aber ein anderes Leben führten, und die vielen jungen Menschen, die aktuell in Deutschland lebten.

Bürgermeisterin Cornelia Reifenberg (CDU) dankt dem Verein Ludwigshafen setzt Stolpersteine, der seit 2007 für 337 Verlegungen gesorgt hat. „Dank dieser Initiative hat die Erinnerungskultur eine ganz neue Qualität bekommen.“

Das Familienbild mit Beatrice und Jonathan Knight, Franz Georg, Edna, Ben und Susie Hirschler wurde vermutlich 1962 im englischen Parkleys aufgenommen. © Privat

Die Nachkommen der Hirschlers und der Schwarz nutzten die Zeremonien für eigene Beiträge, was laut Vereinsvorsitzendem Gerhard Kaufmann „nicht so häufig“ vorkommt. „Sie waren die Glücklichen, die Überlebenden“, sagt Corinna Perry über ihre Verwandten. Doch der Schmerz blieb offenbar. Francis Hirschler und Beatrice sprachen mit ihren Kindern nie Deutsch und verfassten erst kurz vor ihrem Tod Texte zu Erlebnissen und Gefühlen jener Zeit, verlesen von Susie Hirschler und Jonathan Knight. „Er fühlte sich wie ein Flüchtling in Großbritannien, der willkommen geheißen wurde“, sagt die Tochter danach über den Vater. Knight sagt, er sei sehr froh, dass „dem ersten Leben meiner Mutter und meiner Großeltern ein Denkmal“ gesetzt worden sei.

Ron Schwarz sagt danach, es gebe Widerstand gegen diese Form des Gedenkens, auch unter Juden, die sie nicht für würdevoll hielten, aber er sehe das nicht so. Damit werde antisemitischen Falschdarstellungen „ein Dolch ins Herz“ geworfen. „Nie vergessen und nie wieder“, mahnt Larry Schwarz.

Von Geisteskrankem erschossen

Der Vater der beiden ist Mörz zufolge 1926 erst wenige Tage alt, als sein Vater Carl Sidlin in seinem Uhren- und Schmuckgeschäft in der Prinzregentenstraße von einem Geisteskranken erschossen wird. Die Mutter heiratet später den Goldwarenhändler Oscar Schwarz, der das Geschäft übernimmt und Karl adoptiert. In der NS-Zeit verlieren die Eltern das Bürgerrecht, Oscar Schwarz muss nach der Reichspogromnacht vorübergehend ins KZ Dachau, danach zwingt man ihn, sein Geschäft unter Wert zu verkaufen, ebenso ein Haus seiner Frau.

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Die Flucht führt ab 1939 über Frankreich, die Schweiz, Palästina und Großbritannien, bevor die Familie 1948 in den USA Fuß fasst. Oscar Schwarz ist krank, der Besitz in Deutschland zerstört. Sohn Karl, nun Charles, ist im Chemiegeschäft tätig und macht sich mit chemischen Verzeichnissen selbstständig. Seine Art, mit Stress und dem Erlebten umzugehen, sei Arbeiten gewesen, so Larry.

Francis Hirschler und Schwester Beatrice sind Kinder von Carl und Hilda Hirschler, die 1933 in das Haus Lisztstraße 117 ziehen. Der Vater, der aus einer alten pfälzisch-jüdischen Familie stammt, hat eine Großhandelsfirma für Erze, Mineralien und Bergwerksprodukte. Mit der NS-Herrschaft wächst der Druck auf Hirschler, der 1938 nach Paris flieht, wo seine Tochter Kunst studiert. Karl Lochner, späterer Leiter der Ludwigshafener Bauverwaltung, verhilft Frau und Sohn zur Flucht nach Norwegen, von wo aus sie nach Großbritannien gehen. Dort gründet Vater Carl eine Firma für Industriemineralien, Sohn Francis studiert physikalische Chemie und arbeitet mit.

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