Familiengeschichte

Kofferkind Neval Celikel - zwischen Marmarameer und Ludwigshafen

Neval Celikel aus Ludwigshafen hat eine spannende Lebensgeschichte zu erzählen. Sie war "Kofferkind" eines Gastarbeiters, verbrachte ihre Kindheit ohne Eltern in der Türkei - jetzt hat sie ein Buch verfasst

Von 
Ilgin Seren Evisen
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© Privat

Ludwigshafen. Mit dem Abschluss des Anwerbeabkommen 1961 finden türkische Arbeitsmigranten in Deutschland eine neue Heimat. Die Mehrheit plant, innerhalb weniger Jahre zurückzukehren. Oft lassen sie ihre minderjährigen Kinder wegen fehlender Betreuungsmöglichkeiten bei ihren Verwandten in der Türkei zurück. Viele dieser sogenannten Kofferkinder leiden auch heute noch unter dieser Trennung und dem Gefühl, keine Familie zu haben.

Geld sparen und schnellstmöglich in die Türkei zurückkehren. Auf dieses Szenario stellen sich Gastarbeiter nach ihrer Ankunft in Deutschland ein. Kinder stehen den hart arbeitenden türkischen Migranten bei der Erfüllung ihrer finanziellen Ziele im Weg. Sie müssen in der Türkei bleiben und kennen ihre Eltern oft nur von den Besuchen in den Sommerferien.

Neval Celikel hat Autobiografie verfasst

Das daraus entstandene Gefühl der Zerrissenheit zwischen den Welten und der Ausgrenzung kennt Neval Celikel aus Ludwigshafen sehr gut. Die 53-jährige Kosmetikerin und Fußpflegerin ist ein klassisches „Kofferkind“. Über ihre Kindheit, die sie ohne ihre in Ludwigshafen lebende Familie erlebte, schrieb sie kürzlich ihre Autobiografie in türkischer Sprache. „Mit drei schickte meine Mutter mich ins westtürkische Bandirma zu meiner Großmutter. Ab dann lebte ich ohne Eltern und Geschwister“, erklärt Celikel.

Celikels Vater Mustafa Topu war nach seinem Korea-Einsatz als Nato-Soldat 1964 nach Deutschland ausgewandert. „Am 10. Januar 1964 um 10 Uhr fuhr sein Zug Richtung Deutschland in Istanbul ab. Am 12. Januar 1964 kam er in München an. Am 13. Januar trat er sein erstes Arbeitsverhältnis in Deutschland an“, beschreibt Celikel die Migration ihres Vaters. 1965 holt der 25-Jährige seine Frau Samiye Topu und die gemeinsamen Kinder nach Deutschland. Wie andere türkische Gastarbeiter auch möchte die Familie viel Geld sparen und sich mit dem Ersparten spätestens nach einem Jahr ein besseres Leben in der Türkei ermöglichen.

Träume von Rückkehr aufgegeben

Aus einem Jahr werden viele und das 1970 geborene „Überraschungsbaby“ Neval lässt Familie Topu die Rückkehrträume aufgeben. Mutter Samiye Topu bemerkt, dass sie ihre Erwerbstätigkeit mit der Geburt ihres Kindes einschränken muss und beschließt nach drei Jahren, dass ihr Kind bei ihrer Mutter im westtürkischen Bandirma besser aufgehoben ist. Für die dreijährige Celikel beginnt das Leben als Kofferkind: In den Sommerferien bleibt sie wenige Wochen bei ihren Eltern und Geschwistern in Ludwigshafen, den Rest des Jahres lebt sie bei ihren Großeltern.

In der Türkei geht sie in den Kindergarten und in die Grundschule. „Ich habe eine Familie, aber ich habe sie auch nicht“, reflektiert Celikel ihre familiären Bande. Bruder, Schwester, Mutter, Vater. Zwar weiß die kleine Neval, dass sie wie ihre Mitschüler auch eine Familie hat, aber sie empfindet keine Zugehörigkeit zu ihr. In ihrer Wesensart gleicht sie mehr ihren Großeltern und stellt keine Gemeinsamkeiten mit ihren Eltern oder Geschwistern fest. „Als Kofferkind sind sie wie ein Stück Brot. Jeder weiß, wo das Stück Brot hingehört, aber irgendwie passt dieses Stück nicht zum Rest des Brotes“, erklärt Celikel das Gefühl der Entfremdung, das ihr Verhältnis zu ihrer Familie bis heute prägt.

Neval Celikel heute. © privat

Wie andere Kofferkinder auch erlebt Celikel durch die räumliche Trennung den Verlust der Mutter, die sie in der sensiblen Kindheitsphase dringend braucht. Für ihre türkischen Mitschüler mutet das Kind mit den ungewohnten Kleidern aus Deutschland, das immer von den Großeltern zur Schule gebracht wird, seltsam an. Nicht wenige ihrer Klassenkameraden bezweifeln, dass Celikel wirklich Eltern hat. „Als meine Mutter mich das erste und letzte Mal in die Schule brachte, waren die anderen Kinder überrascht, sie hatten mir nie glauben wollen, dass ich wie sie auch eine Mutter habe“, erinnert sie sich.

Als 14-Jährige zurück nach Ludwigshafen

Mit 14 üben Celikels Großeltern Druck auf Mutter Samiye Topu aus. Sie solle sich ihrer Tochter annehmen und sie in der schwierigen Zeit der Pubertät unterstützen. Neval Celikel zieht mit 14 Jahren zurück, wo sie auf die Welt gekommen war. 1984 zurück in Ludwigshafen, besucht sie eine Schule, muss ihr fast vollständig vergessenes Deutsch wieder erlernen. Zwar erlebt die 14-Jährige keinen Kulturschock, da sie Ludwigshafen durch die Besuche in den Sommerferien kannte, doch lebt sie nun bei Menschen, die ihr fremd sind. „Ich hatte eine Familie, aber irgendwie auch nicht“, sagt Celikel über ihren Neustart in Deutschland.

Die junge Frau zieht sich zurück, wird schüchtern und vertraut sich nur ihren Tagebüchern an. Um ihren Vater, den sie nur aus Besuchen in den Sommerferien kannte, näher kennenzulernen, bittet sie ihn darum, ihm von seinen Erfahrungen als Soldat im Korea-Krieg und als Arbeitsmigrant in Deutschland zu erzählen. Mit „Erzähl Vater“ beginnen die gemeinsamen Stunden, das Gehörte hält Celikel schriftlich fest.

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Ihre Mitschriften gewähren einen Einblick in die Lebenswelten der ersten Generation türkischer Gastarbeiter: Schwierigkeiten beim Erlernen der deutschen Sprache, die Sehnsucht nach der einstigen Heimat, die Solidarität und Hilfe der deutschen Nachbarn, das Gefühl des Ankommens in einem Land, in dem man ursprünglich nur wenige Jahre verweilen wollte.

Zeitungen berichten von Hochzeit

Die schüchterne Neval Celikel wird 18 und nach vielen Jahren der Fremdbestimmung beginnt ein Leben der individuellen Entscheidungen. Sie heiratet ihre Jugendliebe Soner, den sie von ihrer Zeit an einer Ludwigshafener Berufsschule kannte, und bricht wegen seiner religiösen Zugehörigkeit zur Minderheit der Aleviten mit ihrer Familie. Das junge Paar reist in die Türkei, wo es heimlich den Bund der Ehe schließt. Auf Wunsch einiger Freunde trägt es bei seinem Rückflug nach Deutschland Brautkleider.

Die türkische Presse wird auf das Paar aufmerksam, das frisch verheiratete Ehepaar schafft es auf die Titelblätter der größten türkischen Tageszeitungen wie Hürriyet und Sabah - zum Unmut von Mutter Samiye Topu, die erst aus der Lektüre von der Eheschließung ihrer Tochter erfährt. Drei gemeinsame Kinder runden das Glück der Verliebten ab. Nach der Geburt der Enkelkinder folgt die Versöhnung mit den Eltern. Neval Celikel geht auf in ihrer Rolle als Mutter und widmet sich dem Glück ihrer Kinder.

Das Kofferkind lebt in Deutschland, die Mutter in der Türkei

Ihr Schreibtalent, die Gründung einer eigenen intakten Familie helfen ihr auch dabei, ihre schwere Kindheit ohne therapeutische Hilfe zu bewältigen. 2023 schreibt sie ihre Autobiografie „Üç yasim“ („Mein drittes Lebensjahr“), die im Herbst im türkischen Buchverlag Cinius erscheint. „Meine Mutter hatte immer klare Vorstellungen für mich. Das kleine Mädchen, das sie in der Türkei zurückgelassen hatte, sollte dort auf sie warten. Sie wollte immer in der Türkei leben, mit mir. Doch ich entschied mich anders“, erklärt Celikel die Welten, die zwischen ihr und ihrer Mutter liegen.

Inzwischen lebt Mutter Samiye Topu in der Türkei, Kofferkind Neval Celikel in Deutschland. Mit der Geburt ihrer drei Kinder und dem Schreiben ihrer Autobiografie hat Neval Celikel mit den Schatten ihrer Kindheit abgeschlossen. Nach Jahren der Zerrissenheit als Kofferkind zwischen den Welten hat sie Frieden gefunden: „Ich bin keine Migrantin mehr“, betont Celikel. „Hier ist nun meine Heimat, hier sind meine Kinder, meine Wurzeln“.

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