Ladenburg. Wirklich Krawall, wie es in einem der bekanntesten Lieder der Hamburger Formation Deichkind heißt, gibt es freilich keinen am Freitagabend auf der Festwiese. Eher fröhlich-ausgelassenes „Yippie Yippie Yeah“. Doch wahrscheinlich liegt jetzt die Partyshow des Jahres hinter der Stadt. Es wurde zwar nach einer etwas verhaltenen Anfangsphase erst bei den Klassikern im knapp zweistündigen Repertoire aus 25 Bandjahren richtig wild und laut, aber unterm Strich „leider geil“. Man muss es bei diesem längst zum geflügelten Wort gewordenen Songtitel der Band einfach so sagen.
Deichkind: Die genialen Slogan-Schleudern wollen wiederkommen auf die Festwiese in Ladenbuerg
Begeistert von der Resonanz versprechen die Deichkinder: „Wir kommen wieder!“ Das würde das altersmäßig und auch sonst bunt gemischte Publikum, darunter Familien mit Kindern, feiern. Spätestens seit dem Erfolg von „Leider geil“ (2012) kennt fast jeder die genialen Slogan-Schleudern. Sie gehen heute auf die 50 zu (oder sind es bereits) und singen scharfzüngig über „Kids in meinem Alter“ (2023). Bei ihnen selbst lautet der „Befehl von ganz unten“ (Songtitel) immer noch: Pogo ohne Pause. So etwas hat es in der alten Römerstadt seit den Tagen von Kaiser Trajan vor 2000 Jahren, als ja auch nicht schlecht gefeiert worden sein soll, wohl noch nicht gegeben.
Der Reihe nach: Es gibt keine Vorgruppe, aber dafür ikonische Hip-Hop-Videos, die auf Monitoren rechts und links der 36 Meter breiten Bühne zu sehen sind. So grooven sich 7000 Besucher aus ganz Süddeutschland bei idealem Open-Air-Wetter locker ein. Als um 20 Uhr der Vorhang aufgeht, gibt´s zu „Sprechgesang und Völkerball“ (99 Bierkanister) die Ansage: „Achtung, Achtung, alle Hände hoch!“
Die Hände gehen hoch und werden zum typischen Dreieck geformt
Viele halten sie zum Dreieck geformt nach oben - das Erkennungszeichen der Band seit 2006, das auch den leuchtenden Pyramidenhut auf der Bühne erklärt. Instrumente sucht man vergebens. Diese Arbeit erledigen Menschen hinter der Bühne, wenn die rhythmisch pumpenden Synthesizer, die bisweilen auch an die 1980er-Ikonen DAF erinnern und sofort in die Beine gehen, nicht gleich vom Band kommen.
Der Auftritt der kultigen Formation um die drei Rapper Kryptik Joe, Porky und - als relativ frisch gebackenes festes Mitglied - der 1981 in München geborene Afrodeutsche Roger Rekless ist weniger Konzert als Kunstwerk. Dass ihre von DJ Phono meisterhaft choreografierte Show mit geometrischen Körpern, Kostümen, Leuchtstäben, Schaumstoffrohren und neonfarbig geschminkten Gesichtern ebenso skurril wie spektakulär ist, beweist die - inklusive Tänzern - 16-köpfige Crew auch in Ladenburg.
Als die Electropunker bei „Auch im Bentley wird geweint“ auf einer riesigen roten Chanel-Tasche reiten wie auf einem mechanischen Rodeobullen, huldigen Tänzer dem Luxussymbol wie einem Goldenen Kalb. Bei „Roll das Fass rein“ schieben sei ein ebensolches im XXL-Format durchs jubelnde Publikum, rappen aus der Riesentonne heraus und bringen alle zum Hüpfen - ein ähnlicher Dauerbrenner der Deichcrew wie das wild über die Menge schlingernde Schlauchboot beim finalen Eskalationshöhepunkt „Remmidemmi“.
Klare Haltung bei Deichkind - auch auf dem Becher: „Kein Bier für Nazis“
Bei all dem wilden Spaß zeigen die Künstler zunehmend offener, um was es ihnen geht. Das fängt bei Getränkebechern an, auf denen „Kein Bier für Nazis“ steht. Und setzt sich fort etwa bei „Wutboy“, einem der aktuellen Lieder, in dem sie Klimawandelleugner und Hasssprecher thematisieren. In einer Ansage betonen sie: „Wir sehen von hier oben, wie unterschiedlich ihr seid, aber wir sind alle zusammen, das muss gefeiert werden, und wir vereinen uns zu einem Knödel aus Liebe und Energie.“
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Zu sagen, dass die sympathischsten Quatschköpfe zu Gast waren in der Stadt, wäre nicht falsch, aber auch nicht ganz richtig. Es sei denn, man würde bei all der grotesk-überdrehten Show und der ausgelassenen Stimmung, die von Deichkind selbst mit „Kindergeburtstag für Erwachsene“ beschrieben wird, den ironisch-humorvollen Unterton der Texte ausblenden. Nur vordergründig geht es um solche Emotionen: „Impulsive Menschen kennen keine Grenzen; schmeiß die Möbel aus dem Fenster, wir brauchen Platz zum dancen“ („Remmidemmi“). Vielmehr bringen Deichkind auf den Punkt, was viele denken. Zum Beispiel über traurige Berufskarrieren. Bei Deichkind klingt das so: „Bück dich hoch! Komm, steiger´ den Profit! Bück dich hoch! Sonst wirst du ausgesiebt!“ Dieser Song ist mit tanzenden Robotern auf der Bühne einer der Höhepunkte.
Die ganze Zwiespältigkeit und Widersprüchlichkeit des modernen Überflusslebens wird selbstironisch reflektiert, wenn sie in ihrer Markenzeichen-Nummer „Leider geil“ lakonisch rappen: „Autos machen Dreck, Umwelt geht kaputt; Doch ‘ne fette neue Karre ist - leider geil.“ Wer das in Abrede stellt, dem rufen sie zu: „Tu doch nich’ so, du magst es doch auch.“
Mit Beat-Geballer und Parolen stellen Deichkind gesellschaftliche Normen infrage. Aber es ist ihnen meistens zu platt, wohlfeil herum zu jammern. Lieber provozieren sie humorvoll-intelligent und fragen: „Niveau weshalb warum?“. Statt oberlehrerhaft zu sagen, Augen auf bei der Berufswahl, skandieren sie „Arbeit nervt“.
So erscheint das, was sich da in Ladenburg abspielt, „crazy“, wie die Deichkinder gerne sagen. Vielleicht wie der sprichwörtliche Tanz auf dem Vulkan als Metapher für Ausgelassenheit angesichts einer gefühlt drohenden Katastrophe. Aber vorerst geben Deichkind in Ladenburg Entwarnung: „Wir tanken Kraft, die Welt ist noch nicht fertig.“
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