Hirschberg. Es ist ein sonnenverwöhnter Vormittag. Wir sitzen auf der Terrasse am Renthaus des Gräflich-Wiserschen Schlosses in Hirschberg-Leutershausen. Die Natur beginnt zu erwachen, die Menschen scheinen aufzublühen. Auch Benedicta Gräfin von Wiser genießt die Atmosphäre. Sie hat eine turbulente Reise hinter sich. Aus Moskau, wo sie lebt. Dem „MM“ berichtet sie von ihren Eindrücken in Russland zwei Monate nach Beginn des Ukraine-Krieges.
Unsere Gesprächspartnerin ist die Schwester des Familienoberhauptes Ferdinand Graf von Wiser. Traditionsbewusst, aber ohne Allüren; ihre Mails an den Autor dieses Artikels unterzeichnet sie mit Benedicta Wiser. Und sie hat einen ganz normalen Beruf: Physiotherapeutin und Heilpraktikerin. In diesem Rahmen lernt sie vor 16 Jahren einen russischen Kollegen kennen. Der macht sie vertraut mit dem, was man als russische Seele bezeichnet. Eine besondere Form der Spiritualität, die den Westeuropäern abgeht.
Benedicta von Wiser ist angetan. Sie lernt Russisch, lässt sich in Moskau nieder, arbeitet vor Ort in ihrem erlernten Beruf, allerdings vor allem im deutschen Umfeld, behandelt Beschäftigte von Einrichtungen wie der deutschen Schule oder den Kindergärten. Doch privat wohnt sie mit und unter den Einheimischen. „In einer Platte“, wie sie durchaus liebevoll formuliert, in einem großen Wohnblock. „Vor dem Haus sitzen die berühmten Babuschkas“, berichtet sie. Mit ihnen hält sie beim Vorbeigehen ihren Plausch.
Anreise auf Umwegen
Das Haus ist einfach, hat aber eine freundlich-gelbe Fassade, liegt in einer guten Gegend mit guter Luft, was in einer Metropole wie Moskau nicht überall der Fall ist. Es liegt etwa zehn Kilometer vom Stadtkern entfernt. Um dort hinzukommen, nutzt Gräfin Benedicta den Nahverkehr: „Der ist sehr gut ausgebaut.“ Ein Auto benötigt sie daher nicht.
Regelmäßig besucht sie ihre Familie in Hirschberg-Leutershausen, im letzten Jahr verlängert sich dieser Aufenthalt wegen Corona auf acht Monate. Auch zum diesjährigen Osterfest ist sie wieder da. Doch diesmal ist die Anreise turbulent - von wegen Direktflug von Moskau nach Frankfurt. „Zuerst ging es von Moskau über die Grenze nach Lettland“, berichtet sie: „Und von Riga dann per Flugzeug nach München.“
Wie ist die Situation der Ausländer vor Ort? „Die Amerikaner und seltsamerweise auch die Franzosen haben die Stadt weitgehend verlassen“, berichtet sie. „Schweizer, Österreicher und wir Deutsche sind noch da.“ Manche Unternehmen versuchen, ihre Mitarbeiter bis Juni zu halten. Das geht nur, solange die Entlohnung in Rubel möglich bleibt.
Schlagen sich die Sanktionen bereits im Alltag nieder? „Es ist natürlich alles teurer geworden“, berichtet sie, „vor allem der Zucker.“ Doch leere Regale sind noch nicht zu sehen. „Auswirkungen erwartet man frühestens für September“, hört sie.
Doch die westliche Vorstellung, die Sanktionen könnten die Menschen dann in Massen gegen Putin auf die Straße treiben, beruhe auf mangelnder Kenntnis der Geschichte des Landes, mahnt sie. „Die Russen hatten noch nie eine richtige Demokratie“, erinnert sie: „Sie sind gewohnt, dass die Regierenden das Volk nicht fragen.“ Und mit großer Zuneigung fügt sie hinzu: „Sie sind unheimlich leidensfähig.“
Alltagsnöte prägen das Leben
Stehen die Russen hinter Putin? Darüber kann und will sie sich kein Urteil anmaßen. „Da müssen Sie Ihre Kollegen, die in Moskau tätigen Journalisten, fragen“, antwortet sie: „Denn ich bin dort natürlich ein stückweit in einer deutschen Blase.“
Doch sie vermag Eindrücke zu vermitteln. Einer lautet: Politik steht für die meisten Russen nicht im Mittelpunkt ihres Alltags. „Ich kenne eine Lehrerin, die hat zwei Jobs, damit sie über die Runden kommt“, berichtet sie: „Und abends ist sie damit beschäftigt, ihre Tochter zu versorgen und den Haushalt zu machen. Da hat sie schlichtweg keine Zeit zu ,vergleichendem Medienkonsum’“.

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Und dies gelte umso mehr, je weiter man sich von den Großstädten entfernt: „Das größte Problem für die Menschen in Sibirien etwa ist, wie sie Eis und Schnee von dem Boden um ihre Datscha herum wegbekommen können, auf dem jetzt im Frühjahr etwas wachsen soll.“
„Aber natürlich bekommt man in der Bevölkerung mit, was geschieht“, sagt Gräfin Benedicta. Weniger über Medien als über persönliche Kontakte. „Denn viele Russen haben Verwandte in der Ukraine.“ Immerhin sind Russland und die Ukraine bis 1991 unter dem Dach eines gemeinsamen Staates, der Sowjetunion. „Kein Mensch will Krieg“, fasst sie die Stimmung der Menschen aus ihrer Sicht zusammen.
"Russen sind Deutschen gegenüber nicht nachtragend"
Bedauerlich findet sie daher, dass in Deutschland eine allgemein unfreundliche, ja feindliche Stimmung gegenüber allem Russischen um sich greife. Das erlebe sie in Reaktionen ihr gegenüber, wenn sie erzählt, dass sie in Moskau lebt und arbeitet, aber auch generell. Nach den Bildern aus der Ukraine gebe es Chat-Nachrichten wie „Die Russen waren schon immer so, meine Großmutter hat mir erzählt, wie sie 1945 geplündert und vergewaltigt haben.“ So etwas schockiert die Gräfin: „Kein Wort darüber, welche Gräuel zuvor beim Überfall der Deutschen in Russland angerichtet wurden.“
Diese Haltung sei übrigens ein Unterschied zwischen beiden Völkern: „Die Russen sind uns Deutschen gegenüber nicht nachtragend“, versichert sie: „Ich jedenfalls habe in den 16 Jahren dort keine antideutschen Ressentiments erlebt.“
Nur einmal gibt es ein differenziertes Erlebnis, das aber auch nicht als Gegenbeispiel dienen kann: Mit Freuden sitzt Gräfin Benedicta in einem Lokal. Am Ende sind nur noch ihre Gruppe und ein russisches Ehepaar im Raum. Da sagt der Mann zu seiner Frau: „Zahlen wir und lassen wir die Faschisten alleine.“ Benedicta spricht den Mann darauf an. Der erschrickt, dass sie ihn verstanden hat - und bittet um Entschuldigung. Er arbeite im Kriegshistorischen Institut und habe an diesem Tage die Berichte über die Gräueltaten der Deutschen durchgearbeitet; da sei es über ihn gekommen.
Sorge der Nachbarn
Und um ihre Botschaft zu unterstreichen, berichtet Gräfin Benedicta von einer Begebenheit, die sie ebenfalls sehr berührt hat. Im Wohnhaus in Moskau lebt auch ein Ehepaar, mit dem sie eigentlich keinen Kontakt pflegt. Doch als sie im vergangenen Jahr in Deutschland ist, erreicht sie just von diesem eine Nachricht: „Wir haben von den Überschwemmungen in Deutschland gehört. Sind Sie auch betroffen? Geht es Ihnen gut?“
Das sind die Menschen, denen sie sich innerlich verbunden fühlt. Das ist das Russland, das sie liebt. Und deshalb geht es dorthin auch wieder zurück. Wenn auch auf Umwegen.
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