Hirschberg. Aufführungen in Moskau, ein leibhaftiger Marschall der Sowjetunion als eine Art Schirmherr, ein Glückwunschschreiben von Gorbatschow – die Rahmenbedingungen des Musicals „Glasnost“, das Bergsträßer Schulen und Chöre vor fast 30 Jahren auf die Bühne bringen, muten heute an wie aus einer anderen Welt. Aus aktuellem Anlass daher die Erinnerung an eine Zeit, als es besser läuft zwischen Deutschen und Russen.
Die Initialzündung für das Projekt ist profan: 1990 wird in Baden-Württemberg der Samstagsunterricht abgeschafft. Im Kultusministerium entsteht die Idee, die freie Zeit für eine Kooperation Schule-Chor zu nutzen. Der Hirschberger Volker Schneider, Rektor der Bonhoeffer-Schule Weinheim und Chorleiter, will sich in das Projekt einbringen.
Er kontaktiert seinen Freund, den Komponisten Fritz Metz. Der hat ein auf russischer Folklore basierendes Musical in petto, Werner Wiegand verfasst den Text. Inhalt: Zwei russische Emigranten beobachten und kommentieren die aktuellen politischen Entwicklungen. Der Titel nimmt die damals herrschende politische Euphorie auf: „Glasnost“.
Schneider gelingt es, mehrere Chöre und Schulen der Bergstraße zu gewinnen, zusammen 200 Aktive im Alter zwischen elf und 70 Jahren. Unter der Regie des an der gesamten Bergstraße bekannten Tausendsassas Hans Todt, selbst ausgebildeter Schauspieler, Conférencier und Journalist, beginnen die Proben – zusammen mehr als 100 Stunden, ein Jahr lang, zuerst in der Tabakfabrik Großsachsen, später in einer Halle der Firma Freudenberg. Dieter Korsch gestaltet die Kulissen, der Verleger Heiner Diesbach sponsert das Programmheft. Am 17. Juni 1995 erfolgt in der voll besetzten Weinheimer Stadthalle die Uraufführung.
Marschall Kulikow zu Gast
Besondere mediale Aufmerksamkeit erfährt sie, weil dazu eine hochkarätige Delegation aus Moskau anreist. An ihrer Spitze der ehemalige Oberbefehlshaber des Warschauer Paktes, Wiktor Kulikow, in seiner Funktion als Vorsitzender des Komitees „Russland und Deutschland im neuen Europa“. An der Aufführung nimmt er in seiner Paradeuniform als Marschall der Sowjetunion teil – eine besondere Ehre und Symbolik exakt im 50. Jahr des Kriegsendes.
Denn Kulikow, 1921 geboren und 2013 mit 91 gestorben, verkörpert die wechselvolle Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen: im Zweiten Weltkrieg Panzerkommandant, im Kalten Krieg Repräsentant der Sowjetarmee. Jetzt sagt er: „Ich selbst weiß, was für ein zerstörerisches Potenzial im Besitz der Supermächte war, arbeite mit ganzer Kraft für die Demokratie in unserem Land und für einen dauerhaften Frieden für unsere beiden Völker.“ Und: „Unsere Jugend soll sich in der Kunst und nicht auf dem Schlachtfeld begegnen“. So bringt er die Idee auf, auch in Moskau zu gastieren.
Und die wird verwirklicht: Mit Darstellern und Orchester, Angehörigen und Freunden geht es im März 1996 nach Moskau. 300 Teilnehmer, alleine 121 Kinder und Jugendliche.
Die gesamte Bühnenausstattung wird per Lkw nach Moskau transportiert. Der strandet zunächst außerhalb der Stadt, denn ein wichtiger Stempel fehlt. Dieter Korsch besorgt sich im Hotel eine rohe Kartoffel und schnitzt daraus einen Stempel, mit dem er das Dokument versieht.
Stempel aus einer Kartoffel
Mit bewusst verwischtem Aufdruck erreicht er die Freigabe, doch vor Ort gibt es ein neues Problem: Das Eisentor der Wellblechhalle, in der der Lkw steht, ist zugefroren. Mit einem Brecheisen wird es geöffnet. Doch auch der Lkw selbst ist eingefroren, die Batterie leer. Der Bedeutung der Aufführung bewusst, hält der Zollbeamte einen voll besetzten Linienbus an. Dieser schleppt den Hanomag an, bis er anspricht – zur Erheiterung der vielen Fahrgäste.
In Moskau kommt es zu drei Aufführungen. Das Interesse ist groß: Besucher kommen in den Pausen oder nach den Vorstellungen hinter die Bühne, um mit den Aktiven zu sprechen. Im Kloster des Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche wird das Ensemble von dessen Stellvertreter empfangen – und von einem Chor, unter anderem mit dem Popsong „By the Rivers of Babylon“. Die Kinder nehmen am Unterricht in der Moskauer Schule Nr. 8 teil.
Am Ende gewinnt das Projekt, das 15 Mal aufgeführt wird, den Landeswettbewerb „Vorbildliche kommunale Bürgeraktion“. Volker Schneider und seine Mitstreiter nehmen in Stuttgart aus den Händen von Ministerpräsident Teufel das Preisgeld in Höhe von 5000 D-Mark entgegen.
Mehrmals wird das Stück, in kleinerem Rahmen, noch gezeigt. Zur Wiederaufführung 1998 kommt ein Glückwunschschreiben von Michail Gorbatschow. Nicht mehr im Amt, ja in seiner Heimat sogar persona non grata hält er an seiner Vision fest: „Die Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen wird von der Jugend getragen“, schreibt er: „An dieser Zukunft haben Sie heute schon einen wunderbaren Anteil.“
Das Projekt – es ist Ausdruck ehrlichen Bestrebens, damals auf beiden Seiten, mit Hilfe der Kultur alte Gräben zu überwinden, die Völker zusammenzuführen. Ein Klima von Versöhnung und Freundschaft, das nun durch Putin zerstört ist.
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