Heidelberg. „Von Natur aus“, falls sich das bei einer so viel Raffinesse aufbietenden Sängerin noch sagen lässt, ist ihre Stimme hell und klar. Selbst in den höchsten Höhen bleibt sie textverständlich, manche Klassik-Sopranistin könnte sich daran ein Beispiel nehmen. Aber Youn Sun Nah kann immer auch das Gegenteil von allem - weil sie eben alles kann. In Astor Piazzollas „Libertango“, von Grace Jones unter der Überschrift „I’ve Seen That Face Before“ zum Pop-Hit umgemodelt, schafft sie es zunächst, Jones‘ quasi-maskulinen Nicht-Gesang perfekt zu imitieren. Scheinbar mühelos. Um dann zu zeigen, was sich jenseits dessen noch so alles mit der Nummer machen ließe.
Wahre Feuerwerke brennt die Koreanerin im proppenvollen Heidelberger Karlstorbahnhof ab, in jedem Stück platziert sie einen technischen Spezialeffekt. Oder auch mehrere. Es ist ein Stimmspektakel. Manchmal macht sich die vokale Virtuosität ein bisschen selbständig, und manchmal, wie im Spiritual „Sometimes I Feel Like a Motherless Child“, ist Youn Sun Nahs Entfernung von den „Roots“ des Ausgangsmaterials allzu beträchtlich. Für die kraftvolle Begleitung, die mit vielen kleinen Solobeiträgen drapiert ist, sorgt der Belgier Éric Legnini. Sein E-Piano tönt wie unter einer Hall- und Wärmeglocke.
Youn Sun Nah singt auch Édith Piafs „La foule“, selbst ihr Französisch ist - das geht bei ihr nicht anders - tadellos. Und nicht nur, weil sie in Paris studiert hat. Sie beherrscht die Kunst der kulturellen Aneignung. Das muss nicht strafbar sein, im Gegenteil: Wenn sie in ihrer zweiten Zugabe Tom Waits‘ Song „Jockey Full of Bourbon“ wie ein alter Rabe krächzt und doch auch wieder ihre Stimmbandpirouetten dreht, ist der Triumph endgültig sicher.
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