Heidelberg. An einen seiner zahlreichen Auftritte erinnert sich Harald Pfeiffer mit Schmunzeln. Das Lied „Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren“ wollte er mit seiner Trompete vom Balkon des Heidelberger Rathauses aus spielen. „Da könnte ja jeder kommen“, beschied die Sekretärin der damaligen Oberbürgermeisterin sein Ansinnen abschlägig. Da wandte er sich an Beate Weber persönlich, und die war begeistert: „Natürlich, gerne!“
Wer mit diesem Theologen und Musiker durch die Heidelberger Altstadt flaniert, der stößt auf viele Stellen, an denen er mit seiner Trompete das Heidelberg-Lied gespielt hat: auf dem Karlsplatz unterhalb des Schlosses, am Schloss selbst, dem modernen Nachfolgebau des Schlosshotels, auf dem Turm der Heiliggeistkirche.
Sein für ihn selbst schönster Auftritt jedoch war jener auf der Dachterrasse des Heidelberg College auf der Neuenheimer Stadtseite im September 2018 unmittelbar vor einer der Schlossbeleuchtungen. „Alle, die unten am Ufer standen, klatschten begeistert Beifall“, erinnert sich Pfeiffer noch immer gerne. Auf seine Anregung hin intoniert seither am Abend jedes Schlossfeuerwerks ein Trompeter das Heidelberg-Lied auf der Alten Brücke.
Theologe und Musiker Harald Pfeiffer erforscht die Geschichte des Heidelberg-Liedes
Man spürt: Dieses Liedchen hat es Harald Pfeiffer angetan. Und dies, obwohl – oder vielleicht ja gerade deswegen – er gar kein gebürtiger Heidelberger ist, sondern aus Göttingen stammt, durch das Theologiestudium in die Stadt am Neckar gelangte und mit seiner Frau, die er ebenfalls hier kennenlernte, noch immer in Heidelberg zu Hause ist, trotz auswärtiger Stellen als evangelischer Pfarrer zwischendurch.
Und da „Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren“ als „Nationalhymne“ seiner neuen Heimatstadt gilt, begann er, sich mit dessen Geschichte zu beschäftigen. Als promovierter Musiker hat er dazu auch den notwendigen Hintergrund, konnte in seinem Buch „Kleine Heidelberger Musikgeschichte“ auch manche Legende als Fake News entlarven. Spannend ist die Geschichte dieses Liedes trotzdem genug.
Der Welthit entsteht aus einer Schnapsidee heraus
Entstanden ist es 1924. Die Melodie stammt von Fred Raymond, damals 23 Jahre jung. Erst kurz zuvor hatte der gebürtige Wiener, ursprünglich Bankkaufmann bei der Österreichischen Nationalbank, seine musikalische Passion zum Beruf gemacht, mit dem Gassenhauer „Ich hab‘ das Fräulein Helen baden sehn“ bereits einen ersten Hit komponiert.
Im Dezember 1924 hält sich Raymond zu einem Gastspiel in Frankfurt auf. „Ein nebeliger, nasser Winternachmittag“, berichtet er später in einem Artikel für die „Frankfurter Nachrichten“, den erst Harald Pfeiffer wiederentdeckt hat: „Ich sitze im Café in der Nähe des Ofens und lese meine Zeitung.“ Plötzlich spricht ihn Ernst Neubach an. Genauso jung wie er, Textdichter - und als solcher gerade knapp bei Kasse.
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Spontan kommt den beiden die Idee, einen Schlager zu schreiben. Ein romantisches Lied soll es sein. Und als Inbegriff der Romantik gilt damals wie heute Heidelberg. Als Refrain schlägt Neubach vor: „Am Heidelberger Schloss steht eine Linde.“ Doch beide waren noch nie in der Stadt, wissen also nicht, ob dem überhaupt so ist. Neubachs zweiter Vorschlag lautet: „Ich hab mein Herz in Heidelberg verloren“. Und dabei bleibt es dann auch. Innerhalb einer halben Stunde ist der Text von zwei Strophen fertig. Danach begeben sich die beiden in Raymonds Wohnung, er setzt sich ans Klavier, und nach einer weiteren halben Stunde ist auch die Melodie komponiert.
Die geheimnisvolle nachträgliche dritte Strophe
Doch fertig ist das Lied damit noch nicht: In der Folgezeit kommt nämlich eine dritte Strophe hinzu. Sie stammt von dem Schriftsteller und Texter Fritz Löhner-Beda, damals bereits über 40 und so etabliert, dass er drei Jahre zuvor dem späteren Filmstar Hans Moser zum Durchbruch verhelfen konnte.
Im Unterschied zu den ersten beiden Strophen ist Löhner-Bedas dritte auffallend melancholisch, wenn es dort heißt: „Was ist aus Dir geworden / Seitdem ich Dich verließ / Alt-Heidelberg, Du Feine / Du deutsches Paradies / Ich bin von Dir gezogen / Ließ Leichtsinn, Wein und Glück / Und sehne mich, und sehne mich / Mein Leben lang zurück.“ Angesichts seines späteren Schicksals wirken Löhner-Bedas Worte geradezu prophetisch.
Die genauen Gründe und Umstände dieser Textergänzung liegen bis heute im Dunkel. Klar scheint nur, dass alle drei Beteiligten in Wien gewirkt hatten und sich wohl von daher persönlich kannten.
Ein Welthit, gesungen sogar in Japan
Jedenfalls wird das Manuskript beim Frankfurter Musikverlag eingereicht. Doch es ergeht ihm, wie manchem Welthit bei Plattenfirmen in späteren Jahrzehnten: Der Verlag lehnt höflich, aber eindeutig ab. Es ist der Wiener Boheme-Verlag, der das Stück einen Monat später unter Vertrag nimmt. Und damit einen Volltreffer landet: Bereits im Jahr darauf hat das Lied eine Auflage von 100.000 Stück erreicht und ist in zahlreiche Sprachen übersetzt. Alleine die Tantiemen in den USA erbringen 4.000 Reichsmark. Haupt-Textautor Neubach hat wenig davon: Klamm wie er war, hat er gleich nach Entstehung des Liedes die Verkaufsrechte für das Ausland gegen ganze 600 Reichsmark abgetreten.
Bald tritt das Lied seinen Siegeszug vor der Kamera und auf der Bühne an. 1926 steht es im Mittelpunkt eines Stummfilms, 1927 macht Raymond unter dem gleichen Titel daraus ein Singspiel (heute würde man sagen: Musical). An der Wiener Volksoper erlebt es 700 Aufführungen.
Auch in Japan wird es gesungen: „Selbst in Tokio, nicht weit von der Hinza, der Hauptgeschäftsstraße, gab es ein Restaurant Old Heidelberg“, berichtet der Diplomat Erwin Wickert, Vater des „Tagesthemen“-Moderators Ulrich Wickert (1915-2008), 1954 in seinen Erinnerungen: „Die Vorderfront des ganzen Gebäudes hatte die Form eines Riesenfasses. Und in dem Fass, in Kimonos und Holzsandalen, servierten die zierlichen Neesans, wie die Kellnerinnen heißen, Bier in Krügen, die mit den Wappen der Verbindungen geziert waren. Um den Namen des Lokals zu rechtfertigen, sahen sie gelegentlich bewundernd zu dem Bild an der Bar (das Schloss in Rosa) und brachten in sehr, sehr hoher Stimmlage ihr Lied an den Mann: Ich hab mein Helz in Heidelbelg vellohlen.“
Und was wurde aus den Protagonisten?
Fred Raymond komponierte viele weitere Hits, allen voran 1928 „In einer kleinen Konditorei“ und 1943 als Soldat „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei“; dessen angesichts des Krieges vieldeutiger Text wurde von Lale Andersen gesungen und dadurch weltbekannt. 1951 brachte das Nationaltheater Mannheim seine letzte Operette „Geliebte Manuela“ auf die Bühne. 1954 verstarb Raymond an Herzversagen.
Ernst Neubach schrieb mehr als 2.000 Texte für Chansons und Schlager, unter anderem den für Raymonds Komposition von der „kleinen Konditorei“. Nach der Besetzung Österreichs durch die Nazis 1938 musste er als Jude fliehen, ging zunächst, um der Deportation zu entgehen, nach Frankreich und nach dessen Besetzung durch die Wehrmacht in die Schweiz. Nach dem Kriege kehrte er nach Deutschland zurück und arbeitete erfolgreich als Filmproduzent. Er starb 1968 in München.
Fritz Löhner-Beda hat das schwerste Schicksal
Fritz Löhner-Beda schuf mit Franz Lehár als Komponisten und Richard Tauber als Sänger mehrere erfolgreiche Operetten, allen voran „Das Land des Lächelns“ (1929). Im März 1938, unmittelbar nach der Besetzung Österreichs durch die Nazis, wurde er verhaftet und ins KZ Dachau verschleppt, später nach Buchenwald, 1942 schließlich nach Auschwitz. Hier wurde er am 4. Dezember 1942 erschlagen, nachdem eine Gruppe von Direktoren der I.G. Farben bei ihrem Besuch die Arbeitsleistung des bereits schwerkranken 59-Jährigen bemängelt hatte.
In einer eidesstattlichen Aussage beschreibt ein Mithäftling den Vorgang 1947 in einem Kriegsverbrecherprozess in Nürnberg wie folgt: „Einer der Direktoren wies auf Dr. Löhner-Beda und sagte zu seinem SS-Begleiter: ‚Diese Judensau könnte auch rascher arbeiten.‘ Darauf bemerkte ein anderer I.G.-Direktor: ‚Wenn die nicht mehr arbeiten können, sollen sie in der Gaskammer verrecken.‘ Nachdem die Inspektion vorbei war, wurde Dr. Löhner-Beda aus dem Arbeitskommando geholt, geschlagen und mit Füßen getreten, so dass er als Sterbender zu seinem Lagerfreund zurückkam und sein Leben in der I.G.-Fabrik Auschwitz beendete.“ Als Täter wurde der Kapo Josef Windeck nach dem Kriege angeklagt, jedoch „mangels an Beweisen“ nicht verurteilt.
Löhner-Bedas Frau Helene, der er 1929 den berühmten Schlager „Dein ist mein ganzes Herz“ gewidmet hatte, wurde nach Verhaftung ihres Mannes enteignet, 1942 mit ihren beiden Töchtern, 13 und 14 Jahre alt, nach Minsk deportiert und im Vernichtungslager Maly Trostinez in Gaswagen ermordet.
Auch diese Schicksale stecken hinter diesem fröhlichen Lied und sind auf einer Gedenktafel angedeutet. Erst noch nur mit den ersten Takten der Melodie versehen, war diese ab 1996 zunächst an der Wand des Hauses Hauptstraße 13 (Volksbank) angebracht. 2014 wurde sie um die Namen und Lebensdaten der beiden Text-Autoren ergänzt, jedoch an die Uferwand auf der Neuenheimer Seite der Alten Brücke versetzt. „Der völlig falsche Ort, denn hier sieht sie doch kaum jemand“, bedauert Harald Pfeiffer und fügt ein wenig spöttisch hinzu: „Aber typisch für Heidelberg.“ Wie das Lied.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Warum wir weiter erinnern müssen – auch wenn es unbequem ist