Heidelberg. Ein Rugby-Jugendtrainer aus Heidelberg muss sich ab Freitag vor dem Heidelberger Landgericht wegen sexueller Übergriffe auf Kinder verantworten. Die Sportpsychologin Jeannine Ohlert erklärt im Interview, warum Vereine intuitiv oft falsch handeln und Gerichtsverhandlungen in solchen Fällen mitunter an ihre Grenzen stoßen.
Frau Ohlert, vor dem Heidelberger Landgericht beginnt am Freitag ein Prozess gegen einen Rugby-Jugendtrainer. Vier Jungen sollen durch ihn sexualisierte Gewalt erfahren haben. Dass solche Fälle vor Gericht landen, kommt relativ selten vor. Warum?
Jeannine Ohlert: Viele Betroffene werden von Tätern dermaßen „eingewickelt“, dass sie selbst kaum realisieren, dass da etwas passiert, das absolut nicht okay ist. Zusätzlich werden sie noch unter Druck gesetzt. Ihnen wird beispielsweise damit gedroht, nicht mehr aufgestellt zu werden, oder kleinen Kindern gegenüber sagt man, ihrer Familie könnte etwas zustoßen. Täterinnen und Täter – ich bleibe mal bei der männlichen Form, weil es überwiegend Männer sind – arbeiten sehr subtil. Und selbst wenn sich Betroffene offenbaren, gestaltet sich die juristische Aufarbeitung schwierig.
Prozess gegen Trainer
- Ab diesem Freitag (8.30 Uhr) steht der Mann vor dem Landgericht Heidelberg, weil er laut Anklage "in mehreren Fällen ihm anvertraute Kinder und Jugendliche zu sexuellen Handlungen in seinem Beisein aufgefordert und in einem Fall sexuelle Handlungen an einem Kind vorgenommen" hat.
- Die Staatsanwaltschaft habe Ermittlungen gegen den Mann eingeleitet, weil Eltern eines Kindes sich bei der Polizei gemeldet hätten, teilte ein Sprecher der Heidelberger Staatsanwaltschaft mit.
- Vor die 3. Große Strafkammer sind bis zum angepeilten Ende der Verhandlung am 5. Januar neun Zeugen geladen.
Inwiefern?
Ohlert: Viele Fälle bewegen sich an einer Grenze zwischen strafbaren und nicht strafbaren Handlungen, für die es letztlich keine rechtliche Handhabe gibt. Deswegen tauchen viele Fälle nicht vor Gericht auf, bei denen ethische oder persönliche Grenzen klar überschritten worden sind. Und in den Fällen, in denen ermittelt wird, und die vor Gericht verhandelt werden, ist es häufig sehr schwierig, nachzuweisen, dass etwas passiert ist. Es gibt Schätzungen, dass 90 Prozent der Fälle, die vor Gericht landen, nicht im Sinne der Betroffenen ausgehen. Im Sinne des Opferschutzes ist die deutsche Rechtssprechung einfach nicht klar genug.
Dabei hat ein „gerechtes Urteil“ eine sehr große Bedeutung für die Betroffenen. Vielen geht es nicht nur um die Strafe, sondern um eine gerechte Beurteilung. Darum, dass anerkannt wird, was ihnen passiert ist.
Ohlert: Absolut. Ich glaube aber, dass das auch auf anderen Ebenen funktionieren kann. Zum Beispiel, wenn der Täter vom Verband bestraft wird – etwa mit einem Lizenzentzug und einem Verbot, weiter als Trainer zu arbeiten. Der Verband kann ganz klar Richtlinien aufsetzen und befolgen, in denen es heißt, dass er keine Person beschäftigen will, von der er weiß, dass sie persönliche Grenzen überschreitet.
Und das funktioniert?
Ohlert: Leider gestaltet sich auch das oft schwierig, weil sich die meisten Verbände bislang nicht sehr intensiv mit dem Themenkomplex befasst haben und jetzt erst nach und nach ein Bewusstsein geschaffen wird. Das hat man zum Beispiel im Fall des Deutschen Turnerbunds gesehen, der in Chemnitz Schwierigkeiten hat, eine Trainerin, die mit psychischer Gewalt gearbeitet hat, loszuwerden – weil sie gar nicht beim DTB angestellt ist. Aber es gibt Verbände, bei denen tut sich viel. Und auch das Innenministerium ist dabei, ein Zentrum für „Safe Sport“ aufzubauen.
Anlaufstellen - Hilfsangebote für Betroffene
ChildHood-Haus Heidelberg: www.klinikum.uni-heidelberg.de
Kinderschutzzentrum Heidelberg und Rhein-Neckar-Kreis: www.awo-heidelberg.de
Weißer Ring Heidelberg: heidelberg-baden-wuerttemberg.weisser-ring.de
Kontakt zum Landessportbund: safesport.dosb.de
Insgesamt hat man den Eindruck, dass sich Betroffene und Vereine in einer solchen Situation ziemlich alleingelassen fühlen.
Ohlert: Alle Seiten brauchen unbedingt zusätzliche Unterstützung, sobald es einen Verdacht gibt. Das gilt vor allem natürlich für die Betroffenen, aber auch für die Verbände und Vereine, die oft sehr hilflos sind. Viele haben zwar einen guten Willen, aber oft keine richtige Idee, was sie tun sollen. Intuitiv machen sie häufig viele Dinge falsch. Deswegen ist eine professionelle Unterstützung wichtig.
Was meinen Sie mit „intuitiven Fehlern“?
Ohlert: Ganz am Anfang haben wir oft die Schwierigkeit, dass Betroffenen nicht geglaubt wird, wenn sie sich an andere Erwachsene wenden. Da wird gesagt: „Nein, wir kennen den doch, der macht so etwas nicht.“ Deswegen ist eine Anlaufstelle wichtig, die nicht negiert und bagatellisiert. Und der größte Fehler, der häufig anschließend gemacht wird, ist, dass man versucht, alle Beteiligten an einen Tisch zu setzen, um zu schauen, was an den Vorwürfen dran sein könnte. Ist aber tatsächlich etwas vorgefallen, dann wird der Täter dadurch vorgewarnt und kann die Betroffenen unter Druck setzen, so dass diese die Vorwürfe im zweiten Schritt wieder zurückziehen. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass man durch ein solches Gespräch die Betroffenen nochmals traumatisiert.
Was wäre stattdessen zu tun?
Ohlert: Der richtige Weg wäre, sich so schnell wie möglich an eine Anlaufstelle zu wenden, die Ahnung hat, und diese hinzuzuziehen. Und ich meine jetzt gar nicht die Polizei, sondern Beratungsstellen in der eigenen Umgebung. Außerdem gibt in fast allen Landessportbünden Ansprechpartnerinnen und Ansprechpartner für diese Fälle und im Zweifel auch das bundesweite Hilfetelefon. Dort gibt es Menschen, die wissen, wie man richtig mit den Betroffenen spricht, damit sie eben nicht wieder traumatisiert werden. Und die auch wissen, welche Schritte einzuleiten sind, wie man mit der Situation umgeht, ohne dass die gesamte Organisation traumatisiert wird. Hier braucht man viel Augenmaß. Diese Experten können später dann auch dabei unterstützen, die Fälle aufzuarbeiten.
In Sportvereinen herrscht oft eine familiäre Struktur vor. Die Menschen, die sich engagieren, sind miteinander befreundet, man kennt sich über Jahrzehnte. Inwiefern erschwert das die Auseinandersetzung mit einem Verdachtsfall?
Ohlert: In der konkreten Krisenintervention, wenn ein Fall unmittelbar passiert ist, haben wir große Schwierigkeiten durch diese familiären Strukturen. Und teilweise sind es ja wirklich Familien. Da herrschen große Verstrickungen vor. Da ist der Trainer dann auch der Onkel, oder der Vereinsvorsitzende ist der Cousin. Oder es bestehen freundschaftliche Verbindungen, und man traut es den Leuten einfach nicht zu. Genau das ist aber die Strategie der Täter: Sie sind oft so nett, dass sie alle einwickeln und ihnen das niemand zutraut. Und dann kommen sie leider auch tatsächlich häufig davon.
Jeannine Ohlert
Sportpsychologin Dr. Jeannine Ohlert (47) forscht an der Deutschen Sporthochschule Köln zum Thema „Sexualisierte und Interpersonale Gewalt im Sport“ und gehört deutschlandweit zu den führenden Experten auf diesem Gebiet. Sie untersucht etwa den Umgang mit Nähe und Distanz in der Beziehung zwischen Trainern und Athleten.
Aktuell leitet sie auch das Projekt „Safe Clubs“. Ziel des Projekts ist es, nachhaltige Konzepte zu entwickeln, die Sportvereinen künftig helfen sollen, bei Fällen sexualisierter Gewalt besser intervenieren zu können und sie bei der Präventionsarbeit zu unterstützen. agp
In Heidelberg steht der Prozess nun kurz bevor. Das ist besonders für die Betroffenen und ihre Familien eine sehr belastende Zeit. Welche Ressourcen brauchen Betroffene und Angehörige, um diesen Weg bis zum Schluss zu gehen – um auszuhalten, dass sie für sich selbst einstehen?
Ohlert: Durch einen Prozess kann es passieren, dass die Betroffenen noch einmal traumatisiert werden, weil die belastenden Situationen wieder „hochgespült“ werden. Deswegen würde ich allen Familien raten, sich professionelle Unterstützung zu holen. Man kann bei Vorfällen sexualisierter Gewalt über die Krankenkasse eine psychotherapeutische Begleitung beantragen, und das würde ich unbedingt in Anspruch nehmen. Weil die juristische Aufarbeitung so viel wieder hochholt – ganz egal, wie lange das Ganze her ist. Und auch dann, wenn man selbst vielleicht gar keine Aussage mehr vor Gericht machen muss. Das kann einfach noch einmal extrem belastend sein.
Etwas, von dem sie sich wünschen, es wäre nie passiert. Was können Vereine präventiv tun?
Ohlert: Prävention ist das A und O. Prävention heißt, eine Kultur des Hinsehens im Verein zu entwickeln, das Thema Gewalt – sexualisierte, psychische und physische Gewalt – nicht mehr totzuschweigen. Nach dem Motto: Bei uns findet das nicht statt. Das stimmt nicht. Gewalt findet in allen Vereinen statt. Statistisch gesehen gibt es in jedem Verein Betroffene. In jedem. Punkt.
In jedem Verein?
Ohlert: Egal wie klein der Verein ist, ja. Denn wenn man sich unsere Zahlen anschaut, geht man davon aus, dass allein jede dritte Person von sexualisierter Gewalt betroffen ist, dann müssen Sie nur eins. zwei, drei abzählen. Alle Vereine haben mehr als drei Mitglieder. Und bei psychischer Gewalt ist der Anteil noch höher.
Was können wir angesichts dieser Zahlen als Gesellschaft tun?
Ohlert: Wenn ich mein Kind in einem Verein anmelde, dann kann ich auf jeden Fall schauen, was macht denn der Verein zum Thema Kinderschutz. Wenn ich mein Kind im Verein habe, dann kann ich als Eltern immer wieder hingehen und Dinge zum Thema Kinderschutz anstoßen, selbst Verantwortung übernehmen. Die Vereine sind froh um jede Person, die sich für das Thema interessiert, und vielleicht findet man in den Vereinen auch Gleichgesinnte, die das Thema auch wichtig finden und sich engagieren. Zum Verein gehört das komplette Umfeld: die Fans, die Eltern, alle. Wenn alle hinschauen, haben wir eine Chance.
Können Sportvereine überhaupt noch ihr Versprechen einhalten, Menschen zu einem gesünderen und kraftvollen Leben zu verhelfen?
Ohlert: Zum Glück ist es in der großen Mehrheit der Fälle nach wie vor so. Ich würde niemandem kategorisch davon abraten, in einen Sportverein einzutreten. Das wäre Unsinn. Aber es ist kein Zufall, dass bestimmte Vorfälle in bestimmten Vereinen passieren. In einem Umfeld, in dem die Täter das Gefühl haben: Da kann ich hingehen, ohne dass hingeschaut wird. Täter suchen sich in der Regel den einfachsten Weg, um an potentielle Opfer heranzukommen. Wir können also von einem sehr strategischen Vorgehen ausgehen. Es gibt Gerüchte darüber, dass es im Netz sogar einen Austausch darüber gibt, in welchen Vereinen man problemlos „tätig“ werden kann. Bei den Leuten, die straffällig geworden sind – dazu gibt es auch eine Untersuchung – zeigt sich, dass viele Mehrfachtäter sind, die von Verein zu Verein gehüpft sind. . .
… und dort großen Schaden angerichtet haben.
Ohlert: Wir sehen, dass Menschen nach schweren Vorfällen ihr ganzes Leben lang mit den Folgen kämpfen. Viele haben Probleme damit, ihre Gefühle zu regulieren. Den Alltag zu bewältigen ist für sie teilweise schwierig. Sie haben Probleme damit, einen Job zu finden, zu studieren. Das sind typische Traumafolgen, und es ist wichtig, dass die Betroffenen hier Unterstützung bekommen, weil die Einschränkungen sich sonst über das komplette Leben erstrecken. Im Grunde kann ein Täter ein komplettes Leben zerstören – das muss man sich bewusst machen.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Übergriffe in Sportvereinen: Hinschauen und handeln