Porträt

Szenen aus dem Gerichtssaal: Wie Martin Burkhardt aus Neustadt Gerichtszeichner wurde

Wenn die Kameras der Fotografen und Filmteams verschwinden, beginnt Martin Burkhards Job. Seit über 20 Jahren zeichnet er Angeklagte, Opfer und Richter. Ein Gespräch über seine Arbeit und die zwei größten Probleme dabei.

Von 
Agnes Polewka
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Martin Burkhardt zeichnet seit Anfang der 2000er-Jahre Szenen aus dem Gerichtssaal nach. © Elia Sept

Rhein-Neckar. Martin Burkhardt zeichnet mit einem Bleistift Linie um Linie auf das Blatt Papier auf seinen Knien. Er hat wenig Zeit, sein Blick hebt und senkt sich. Aus den Linien werden Umrisse. Burkhardt sitzt in der ersten Reihe des größten Sitzungssaals des Oberlandesgerichts in Stuttgart-Stammheim. Gerade haben die Wachtmeister die Türen zum Saal geöffnet, in dem das Staatsschutzverfahren gegen Sulaiman A. beginnen soll, den mutmaßlichen Messerattentäter vom Mannheimer Marktplatz.

Ihn zu zeichnen, ist an diesem 13. Februar 2025 Martin Burkhardts Aufgabe. Martin Burkhardt ist Gerichtszeichner. Er hat viele große Prozesse mit seinen Zeichnungen begleitet, so skizzierte er etwa Wettermoderator Jörg Kachelmann. Oder Harry Wörz, der über Jahre unschuldig im Gefängnis saß. Burkhardts Zeichnungen sind wichtig, weil während laufender Prozesse in Deutschland nicht gefilmt oder fotografiert werden darf. Es gibt nur wenige kurze Zeitslots, in denen Fotografen und Kameramänner in den Raum dürfen, meist zu Beginn und am Ende von Verfahren.

Martin Burkhardt



Martin Burkhardt hat Kommunikationsdesign an der Hochschule Mannheim studiert. Seit Anfang der 2000er-Jahre arbeitet er als Gerichtszeichner. Daneben betreibt er mit Freunden eine Siebdruckerei im Jungbusch und ist für das Festivaldesign des Mannheimer Musikfestivals Maifeld Derby verantwortlich.

Martin Burkhardt ist 43 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder .

Weitere Infos unter: www.martinburkhardt.de und www.antighost.de

So ist das auch an diesem Donnerstag Mitte Februar. Während links im Saal ein Gerangel um den besten Platz entbrennt, von dem aus sich der Angeklagte ablichten lassen könnte, sitzt Burkhardt stoisch auf seinem Platz.

Die Kameraleute, die durch die Zuschauerreihen rennen und ihre Objektive an die Panzerglaswand pressen, als der Angeklagte hereingeführt wird, scheint er nicht wahrzunehmen. Inzwischen koloriert Burkhardt seine Bleistiftzeichnung mit Aquarellfarben. Auf dem Papier auf seinen Knien ist der Sitzungssaal entstanden – allerdings noch ohne Verfahrensbeteiligte: die Richter und die Richterin, die Bundesanwältinnen, die Opfer und Angehörigen mit ihren Anwälten.

„Das größte Problem beim Gerichtszeichnen ist die Zeit“, sagt Burkhardt. Deshalb fängt er schon an, den Gerichtssaal zu skizzieren, wann immer ihm sich die Gelegenheit dazu bietet. „Später kann ich mich dann auf die Menschen im Raum konzentrieren.“ In Stuttgart hat Burkhardt an diesem Vormittag eine, maximal anderthalb Stunden Zeit, sagt ihm eine Sprecherin des Gerichts. Für den „Mannheimer Morgen“ soll er den Saal mit allen wichtigen Personen einfangen, außerdem eine Nahaufnahme des Angeklagten. Wenn noch Zeit bleibt, auch die Schwestern und die Mutter von Rouven Laur. Vielleicht auch die Bundesanwältin.

Prozesse gegen Kachelmann, Wulff und die Schlecker-Familie

Neben der Zeit hat Burkhardt oft noch ein anderes Problem: den richtigen Sitzplatz zu finden. Insbesondere wenn er Menschen zeichnen soll, die im Zeugenstand Platz nehmen und ihm dann den Rücken zukehren. Meist nimmt er dann ganz außen Platz, an diesem Tag in Stuttgart ist das nicht so. Dort wird zunächst nur die Anklage verlesen, Sulaiman A. sitzt – vom Zuschauerraum aus betrachtet – links außen, durch Glasscheiben von den Zuschauern und den übrigen Verfahrensbeteiligten getrennt. Gut sichtbar für Burkhardt, wenn auch einige Meter entfernt.

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Burkhardts Blick hat in den vergangenen Jahren auf vielen Menschen geruht, denen schwere Verbrechen vorgeworfen wurden. Seine Karriere als Gerichtszeichner begann Anfang der 2000er, als die Hochschule Mannheim, an der er Kommunikationsdesign studierte, das Gesuch eines lokalen Fernsehsenders nach einem Gerichtszeichner veröffentlichte. Burkhardt meldete sich, saß zweimal zum Probezeichnen im Sitzungssaal. Und dann ergab eins das andere. Dass er zeichnete, sprach sich schnell herum, in den Redaktionen. Er begleitete den Schlecker-Prozess, das Verfahren gegen den ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff. Vor allem in der Zeit, in der er Wettermoderator Jörg Kachelmann zeichnete, der zu Beginn der 10er-Jahre am Landgericht in Mannheim angeklagt war, bekam er viele Anfragen. Heute zeichnet Martin Burkhardt zwei bis vier Mal pro Jahr in deutschen Gerichtssälen.

Das Verfahren in Stuttgart-Stammheim ist für Burkhardt ein besonderes, weil es zu diesen großen, besonderen Verfahren zählt. Auch hat er lange in Mannheim gelebt – heute wohnt er in Neustadt –, und viele seiner Herzensprojekte führen ihn weiter in die Stadt.

Illustrationen als „Brotjob“ und Festivaldesign für das „Maifeld Derby“

Mit zwei Freunden betreibt er im Mannheimer Jungbusch die „Antighost Siebdruck-Werkstatt“, in der sie Kunstdrucke in Handarbeit herstellen. Das funktioniert so: Zuerst zeichnet jemand von ihnen das Motiv, dann wird es in kleiner Auflage von Hand gedruckt. Auf diese Weise stellen sie zum Beispiel Konzertposter her. Und darüber kamen die drei Freunde mit Timo Kumpf in Kontakt, dem Veranstalter des Mannheimer Musikfestivals Maifeld Derby, das in diesem Jahr seine letzte Auflage feiert. Seit 2023 hat Martin Burkhardt das komplette Festivaldesign übernommen.

„Das ist auf jeden Fall eins dieser Projekte, die am meisten Spaß machen“, sagt er. Aber zu seinen besonderen Projekten gehört eben auch das Gerichtszeichnen. Wann immer ihn eine Anfrage einer Redaktion erreicht, versucht er, den Termin möglich zu machen, sagt er. Burkhardts „Brotjob“ sind Illustrationen, zum Beispiel Infografiken für Firmen.

Als die Bundesanwältin am 13. Februar, gegen Mittag, die Anklage verlesen hat, hat Martin Burkhardt, den Sitzungsaal mit allen Menschen auf Papier gebannt und den Angeklagten porträtiert, auch die Gesichtszüge der Bundesanwältin hat er mit feinen Linien nachgezeichnet. Das Grauen, das in den Gerichtssälen seziert wird, kann er sich oft bildlich vorstellen. Doch dann fokussiert sich Martin Burkhardt auf das Blatt Papier auf seinen Knien, auf seine Zeichnungen, die die juristische Aufarbeitung des Bösen dokumentieren.

Auch das Festivaldesign zum Maifeld Derby stammt von ihm. © Martin Burkhardt/Maifeld Derby

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