Heidelberg. Wer ist Opfer, wer Täter? Im Verfahren um versuchten Totschlag in zwei Fällen und gefährliche Körperverletzungen vor dem Heidelberger Landgericht scheinen die Fronten immer wieder zu verschwimmen. Fünf Jahre nach einer blutigen Auseinandersetzung zwischen zwei Besuchergruppen in der inzwischen geschlossenen Diskothek „Nachtschicht“ in Heidelberg arbeitetet die Sechste Große Strafkammer aktuell den dritten und letzten Teilkomplex auf. Seit 25. November muss sich ein 30-Jähriger verantworten, der zwei Brüder mit einem Kartonmesser schwer verletzt haben soll. Er war mehrere Jahre abgetaucht und hat sich im Januar 2021 den Behörden gestellt. Gesehen hat die Messerstiche im Gemenge offenbar nur einer – und nur aus dem Augenwinkel: ein Geschädigter selbst.
Kein Motiv gefunden
Ist es eine „Testosteron-Alkohol induzierte Hahnenkampfgeschichte“, die aus dem Ruder lief, stecken kriminelle Machenschaften hinter der Auseinandersetzung, oder spielen Familienstreitigkeiten eine Rolle – Täter und Opfer sind teilweise verwandt. „Wir konnten bis heute kein konkretes Tatmotiv herstellen“, fasst ein leitender Ermittler zusammen, der am Mittwoch als Zeuge aussagt. Es habe keine Hinweise auf einen Drogen-Hintergrund gegeben und auch Banden-Strukturen seien nicht bestätigt. „Wir wissen, dass eine Gruppe ein Familienverband ist und mehrere Friseurgeschäfte betreibt. Einer der Söhne sei unbestritten der Chef. Von Rockerkriminalität könne man nicht sprechen.
Das schildert ein weiterer Zeuge am dritten Verhandlungstag völlig unterschiedlich: Der 29-Jährige ist mit dem am Anklageplatz sitzenden und zwei weiteren Freunden an jenem Morgen des 16. Dezember in der Diskothek angekommen, „um zu feiern“. Wenig später ist er der erste Verletzte des Abends: Nach einem kurzen Wort-Scharmützel mit einem Mitglied der anderen Gruppe, das sich weiter steigerte, knallte ihm einer unvermittelt ein Glas an den Kopf. Im Januar 2018 wurde dieser 40-Jährige – er nimmt am aktuellen Prozess als Nebenkläger und Verletzter teil – wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt. „Um besser vor dem Gericht dazustehen“ – sagt der Zeuge heute – habe der Glas-Schläger ihm zunächst ein Schmerzensgeld von 1000 Euro gezahlt. Es seien „viele, vielleicht 150 Mann“ schätzt er auf Nachfrage des Vorsitzenden Richters Jochen Herkle.
Wenige Monate nach der Urteilsverkündung habe man das Geld zurückgefordert. Derartig unter Druck gesetzt, habe er schließlich 600 Euro zurückerstattet. „Ich will einfach nur noch meine Ruhe haben“, sagt der 29-Jährige, der nach eigenem Bekunden wie der Angeklagte auch mehrere Jahre an einem geheim gehaltenen Ort aufhielt: „Sie haben keine Vorstellung, wie es ist, wenn man mit so einer Bande zu tun hat.“ Mehrere Videokameras hielten einzelne Szenen fest.
Videokameras installiert
Der Raucher-Außenbereich, in dem sich die Messerstiche abgespielt haben sollen, ist nicht erfasst worden. Der Zugang schon: Nur Sekunden dauert es, nachdem eine Gruppe von Männern hinausstürmte, bis die an Hals und Bauch Verletzten zurückkommen. Von seinem einst guten Freund will der 29-Jährige, der kurz selbst als möglicher Täter in Betracht kam, seit dessen Flucht gar nichts gehört haben. Beide kennen sich seit ihrer Jugend, lebten im selben Stadtteil. „Lassen Sie ihn frei und alles ist erledigt“, schlägt er den Richtern vor. Die Hauptverhandlung wird am heutigen Donnerstag, fortgesetzt.
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