Sexualisierte Gewalt

Mannheimer Forscher kritisiert Landeskirchen wegen Missbrauchs-Studie

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Stephan Alfter
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Harald Dreßing (Mitte) auf der Pressekonferenz zur Vorstellung der Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche. © Stephan Alfter

Als Harald Dreßing im Jahr 2018 das Ausmaß von sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche in der von ihm verantworteten MHG-Studie nachwies, hat sich eine Lawine in Gang gesetzt. Die aktuelle Forum-Studie, die am Donnerstag in Hannover präsentiert wurde, könnte eine ähnliche Wirkung auf protestantischer Seite entfachen. Der Mannheimer Wissenschaftler kritisiert im Interview fehlendes Engagement der Landeskirchen.

Herr Dreßing, ein Betroffener sprach heute Morgen von einem rabenschwarzen Tag für die Evangelische Kirche Deutschland (EKD). Teilen Sie diesen Eindruck?

Harald Dreßing: Wenn ich die Verlautbarung der Bischöfin (amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs, Anm. d. Red.), gehört habe, war das für sie offenbar nicht so rabenschwarz. Sie hat neben ihrer Erschütterung ja sehr viel Positives formuliert. Mir steht diese Beurteilung eigentlich gar nicht zu.

Sie haben - unter Verweis auf Einschränkungen - hochgerechnet, dass fast 10.000 Menschen seit 1946 innerhalb der evangelischen Kirchen von sexualisierter Gewalt betroffen sein könnten.

Harald Dreßing: Für diese Zahl haben wir nur ein geringes Fundament an Daten. Wir haben als Quellenlage nur die Personalakten aus einer einzigen Landeskirche und die Disziplinarakten aus den anderen Landeskirchen. Was man aber sagen kann, dass auch Hochrechnungen das Dunkelfeld vermutlich deutlich unterschätzen. Wir wissen ja, dass keineswegs alles in den Personalakten steht. Um das zu ermitteln, bräuchten wir aber eine institutionsunabhängige Studie mit national repräsentativen Daten.

Wie zufrieden sind Sie denn mit den Ergebnissen der Studie? Sie haben sich in einem Teilkomplex ja vor allem den Zahlen und auch der Frage gewidmet, wie der interne Umgang mit Vorwürfen gegen Täter, darunter viele Pfarrer, war.

Harald Dreßing: Wir als Wissenschaftler haben uns wirklich nichts vorzuwerfen. Wir haben über drei Jahre sehr intensiv gearbeitet und versucht, aus den uns zur Verfügung gestellten Quellen das Maximale herauszuholen. Wenn wir das hätten umsetzen können, was in unserem Forschungsantrag stand und wozu sich die evangelische Kirche auch vertraglich verpflichtet hat, hätten wir deutlich mehr Fälle ermitteln können. Das Glas ist - je nach Blick - entweder halbvoll oder halbleer.

Harald Dreßing

 

  • Der heute 66-jährige Wissenschaftler Harald Dreßing studierte Medizin an der Gutenberg-Universität in Mainz
  • Er leitet seit 1993 den Bereich Forensische Psychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim
  • Dreßing war Leiter der MHG-Studie, die 2018 tausendfachen sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche zwischen 1946 und 2014 nachwies

Sie sagen, dass Sie ihr Vorhaben, möglichst viele Personalakten einzusehen nicht umsetzen konnten. Bei der MHG-Studie über die Katholische Kirche waren das 38.000 Akten, die Sie gesichtet haben. Schließen Sie nun auf eine Verweigerungshaltung seitens der evangelischen Landeskirchen?

Harald Dreßing: Letztlich kann ich nicht beurteilen, welche Motive dahinter stecken. Fakt ist: Schon im ersten Teilschritt, als es noch gar nicht um den Inhalt der Personalakten ging, hat eine extrem schleppende Zuarbeitung stattgefunden. Eine Frage war beispielsweise, wie viele Personalakten es in den unterschiedlichen Archiven der jeweiligen Landeskirche gibt. Dazu müssten man nach meiner Einschätzung - ohne hineinzuschauen - einfach nur die Rücken der Akten zählen. Wir haben von mehr als einem Drittel der Landeskirchen darauf keine Antwort bekommen. Ich kann insofern auch nicht ausschließen, dass es in einzelnen Landeskirchen auch eine Verweigerungshaltung gewesen ist.

Wird da jetzt weiter geforscht?

Harald Dreßing: Das weiß ich nicht. Für uns ist die Studie abgeschlossen. Aus wissenschaftlicher Sicht besteht aber eigentlich die zwingende Notwendigkeit, diese nicht durchgeführte Personalaktenanalyse nachzuholen. Das ist nicht nur der wissenschaftlichen Neugier geschuldet. Um aufzuarbeiten, was geschehen ist, muss man ja zumindest in groben Umrissen wissen, wie groß das Ausmaß gewesen ist. Da ist die Personalaktenanalyse eine mögliche Methode. Ob die EKD das tun wird, weiß ich nicht.

Die EKD wurde bei der Pressekonferenz zur Veröffentlichung der Studie als „zahnloser Tiger“ tituliert. Die Strukturen sind sehr föderal und im Prinzip könne jede angeschlossene Landeskirche machen, was sie wolle, hieß es.. Haben Sie das festgestellt und ist das eine Ursache ihres Dilemmas?

Harald Dreßing: Ja, das haben wir gesehen. Die Rückmeldungen zum Umgang mit den unterschiedlichen Fällen sexualisierter Gewalt sind extrem unterschiedlich gewesen unter den einzelnen Landeskirchen. Sexualisierte Gewalt kann dann womöglich verstärkt geschehen, wenn es keine klaren Verantwortungen gibt. Das ist auch ein Grund, warum die Zusammenarbeit mit unserem Forscherteam in manchen Fällen so schwierig war. Zum Beispiel hat sich die Nordkirche (Sprengel Hamburg-Lübeck, Anm. d. Red.), der Frau Fehrs vorsteht, nicht spontan bereiterklärt, Personalakten zu analysieren. Das wäre ja vielleicht vorbildhaft für andere gewesen.

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Kulturen und Strukturen innerhalb der Evangelischen Kirche sind also relevant für fehlende Aufarbeitung sexualisierter Gewalt?

Harald Dreßing: Das ist sicherlich ein wichtiger Faktor. Wir haben ja mit einer ähnlichen Methode in der MHG-Studie die katholische Kirche untersucht. Nun kennt man mich nicht als unkritischer Verteidiger der katholischen Kirche, aber da muss man sagen: Dort war man besser vorbereitet und das Thema stand in allen Diözesen auf Top eins der Prioritätenlisten bei der MHG-Studie.

Sie haben sich mit der Frage auseinandergesetzt, in welchem Kontext sexualisierte Gewalt stattfinden kann. Gibt es den typischen Fall oder dehnt sich Missbrauch auf alle Handlungsfelder aus?

Harald Dreßing: Eigentlich auf alle Handlungsfelder, aber häufig auf solche, die nicht ganz unerwartet sind: Wir haben einmal das Pfarrhaus als Tatort, aber auch die Jugendfreizeit, den Konfirmanden-Unterricht und die Heime. Das sind gewissermaßen Hotspots.

Wie steht es um Aufarbeitung? Wird die Notwendigkeit vor Ort selbständig erkannt oder bedarf es des Drängens von Betroffenen?

Harald Dreßing: Ich glaube, alle führen das Wort im Mund, aber verstehen oft etwas anderes darunter. Für mich ist Aufarbeitung etwas, wo jedenfalls die Institution und die Betroffenen beteiligt sein müssen, aber auch Vertreter der Öffentlichkeit wie Medien und andere wichtige gesellschaftliche Player. Das muss transparent begonnen werden. Da haben wir in der evangelischen Kirche noch erhebliche dunkle Flecken.

Es war ein Teil der Erzählung, dass sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche weiter verbreitet sei als in der evangelischen Kirche, weil es bei den Katholiken das Zölibat gibt und bei den Protestanten nicht. Ist dieses Narrativ durch die Forum-Studie nun widerlegt?

Harald Dreßing: Dazu hätte es keiner Studie bedurft. Auch in vielen anderen Institutionen gibt es sexualisierte Gewalt. Es sind immer bestimmte Strukturen und es bedarf eines tatgeneigten Menschen, der diese Strukturen missbraucht.

Den Kirchen scheint es schwerzufallen, selbst für Aufarbeitung zu sorgen. Hielten Sie es für sinnvoll, dass die Politik über Gesetzmäßigkeiten die Institutionen zur Aufarbeitung zwingt?

Harald Dreßing: Ja, unbedingt. Es braucht eine Kraft von außen. Das müsste die Politik eigentlich sein.

Welche Bedeutung messen Sie dieser neuen Studie insgesamt zu. Die MHG-Studie war im Jahr 2018 ja eine Art Urknall für das Thema Missbrauch in der katholischen Kirche. Diese Wírkung ist nun nicht zu erwarten, oder doch?

Harald Dreßing: Das muss die Zukunft weisen. Das kann ich im Moment noch nicht einschätzen.

Redaktion Reporter in der Metropolregion Rhein-Neckar

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