Mannheim/Speyer. Die jüngsten Bekanntmachungen über das dramatische Ausmaß sexuellen Missbrauchs (wir berichteten mehrfach) im Bistum Speyer haben Professor Harald Dreßing, Leiter der forensischen Psychiatrie am Mannheimer Zentralinstitut für seelische Gesundheit, in keiner Weise überrascht. Die Veröffentlichung seiner MHG-Studie hatte im Herbst 2018 in der gesamten katholischen Welt eine Art Tsunami ausgelöst. Die Untersuchung führte den kirchlichen Auftraggebern mitunter schockierende Dimensionen des sexuellen Missbrauchs unter ihrem eigenen Dach zwischen 1946 und 2014 vor Augen. Nicht zuletzt der Umgang mit diesen Erkenntnissen führt heute zu einem tiefen Konflikt innerhalb der deutschen Katholiken und einer Spaltung auf fast allen Handlungsfeldern. Das Bistum Speyer räumte im Februar ein, dass sich seit dem Jahr 2018 überdurchschnittliche viele Gläubige aus der Kirche verabschieden würden – bis zu 6000 pro Jahr.
Wo sind Mittäter und Mitwisser?
Es verwundere ihn nicht, so Dreßing, dass nun – beispielsweise in Speyer – Namen von mutmaßlichen Tätern bekannt würden. Immerhin müsse es ja Verantwortliche geben für die beschriebenen Vorgänge, so der 63-Jährige. Dass diese Verantwortlichen in der Führungsgruppe eines Bistums zu suchen seien, das sei eine banale Erkenntnis. Der Wissenschaftler verweist aber gleichzeitig auf die Problematik, dass die Systeme unterhalb der Führungsebene bisher nicht aufgedeckt seien. Dort gebe es vermutlich Mittäter und Mitwisser, die man schwer benennen könne, weil es keine Personen des öffentlichen Lebens seien.
Persönlichkeitsrechtlich sei die Situation in diesen Bereichen schwierig. Das könne bis auf die Ebene der Sekretärinnen jener Geistlichen reichen, die sich den Veröffentlichungen zufolge öfter als bis zum Jahr 2018 bekannt, an Kindern und Jugendlichen vergangen haben. Im Speyerer Fall wirft ein heute 63-jähriges Opfer, das im Kreis Bergstraße lebt, einem früheren Generalvikar vor, hundertfach anal und oral in ihn eingedrungen zu sein. Umfangreiche Recherchen dieser Redaktion haben bisher zwar zu vielen weiteren Informationen über detaillierte Vorgänge im Bistum Speyer der 60er und 70er Jahre geführt, aber zum jetzigen Zeitpunkt noch kein ausreichendes Gesamtbild ergeben.
Wie in einem Kriminalroman ergeben sich aus einer Antwort mehrere neue Fragen. Im Dezember hatte der Speyerer Bischof Karl-Heinz Wiesemann die Beschuldigungen gegen den früheren Generalvikar Dr. Rudolf Motzenbäcker öffentlich gemacht.
Menschen, die den 1998 verstorbenen Theologen kannten, beschreiben ihn als bescheiden, hochintelligent und fleißig. Er habe keine Partys gemocht, sei früh zu Bett gegangen und habe in seinem ganzen Leben nur ein einziges Mal Urlaub genommen. Letzteres bestätigt etwa auch die Personalakte des Mannes, die im Bistumsarchiv liegt. Tiefe Einblicke in das Leben des Mannes hat auch das Bistum bisher nicht erlangt. Eine Sache für die Aufarbeitungskommission, die in Kürze ihre Arbeit aufnehmen soll.
Harald Dreßing bewertet das, was seit der Publikation der MHG-Studie an Prozessen in der Katholischen Kirche geschehen ist, als „äußerst unglücklich und ungeschickt“. Als „sehr problematisch“ bezeichnet er den Umstand, dass „bisher kaum jemand in der Kirche Verantwortung übernommen hat“. Es sei nur von Schuld, Scham und Reue die Rede, aber letztlich gebe es Leute, die vertuscht und diese Dinge ermöglicht haben. Das sei nachgewiesen. „Ich finde, dass die Katholische Kirche im Jahr 2018 auch eine große Chance vertan hat. Wenn sie etwas umgesetzt hätte – etwa in Form von personaler Verantwortung – dann hätten sie weniger Glaubwürdigkeit verspielt.“ Gerade die Vorgänge in Köln um Kardinal Reiner Maria Woelki seien „ein leuchtendes Beispiel dafür, wie man es nicht gut macht.“
Dreßing hält auch das nun praktizierte System mit den unabhängigen Missbrauchsbeauftragten für nicht adäquat. Auch jetzt müsse sich ein Betroffener noch immer an eine Person wenden, die – wie unabhängig sie auch immer sein möge – von der Diözese eingesetzt und bestimmt worden sei. „Genau das wollen viele Betroffene nicht mehr.“ Als „ungenügend“ kritisiert Dreßing das Modell der Aufarbeitungskommissionen, die die Dunkelfelder kirchlichen Handelns ausleuchten sollen. „Die Bischöfe haben bei der Besetzung immer noch das Sagen“, findet Dreßing. Es sei auch überhaupt nicht geklärt, was mit den Informationen geschehe, die aus den untersuchten Akten hervorgehen. Das sei auch juristisch dünnes Eis. Die Kommissionen müssten von staatlicher Seite besetzt werden, sagt der Wissenschaftler, der beauftragt ist, eine ähnliche Studie, wie er sie über die Katholische Kirche verfasst hat, bis ins Jahr 2023 auch für die Evangelische Kirche Deutschlands vorzulegen.
Forensischer Psychiater
Harald Dreßing ist Forensiker. Er leitet die forensische Psychiatrie des Mannheimer Zentralinstituts für Seelische Gesundheit.
Der 63-Jährige war hauptverantwortlich für die MHG-Studie (2018), die das Ausmaß sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen durch Kleriker nach dem Zweiten Weltkrieg dokumentiert hat. sal
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