Heidelberg. Der Wettlauf mit den Verbrechen und Verbrechern nimmt an Intensität zu – wird gefährlicher, komplexer und subtiler. Andreas Stenger (62), der Präsident des baden-württembergischen Landeskriminalamtes (LKA), hat das wie kaum ein anderer verinnerlicht. Der gebürtige Saarländer aus Homburg spürt gemeinsam mit 1.500 Mitarbeitenden und 800 Kriminalbeamten beim LKA sowie 13 regionalen Kriminalpolizeidirektionen Taten unterschiedlichen Schweregrades auf. Und nicht nur das: Er bringt die Mission der Verbrechensbekämpfung den Menschen nahe. Der „Herr Polizeipräsident“ ist ein glänzender Entertainer, der einem ernsten Thema mit Humor, Authentizität und Bodenständigkeit begegnet.
Das zeigt Stenger im Foyer des „blauen Turms“ der SRH Hochschule Heidelberg-Wieblingen. „Herr Stenger, ich hätte Ihnen noch drei Stunden lang zuhören können“, sagt eine Dame beim Hinausgehen. Stenger grinst und bedankt sich. Diesmal ist er der Einladung seines Freundes Professor Karl A. Lamers, CDU-Mann, Rechtsanwalt, Mitglied des Deutschen Bundestages zwischen 1994 und 2021 sowie der Deutschen Atlantischen Gesellschaft gefolgt. Und Lamers konstatiert nach einer 105-minütigen Veranstaltung mit dem Titel „Tatort Zukunft – Neue Wege der Verbrechensbekämpfung“ über Hauptprotagonist Stenger anerkennend: „Er war heute in der Form seines Lebens! Wir haben 140 Gäste gezählt, diese Resonanz spricht für sich.“
Es dürfe „keine Denk- und Kreativitätsblockaden“ geben
Crime-Vorträge mögen wie regionale Krimis en vogue sein, Stenger hat diesen Genres gegenüber einen entscheidenden Vorteil: Der LKA-Chef plaudert unentwegt aus dem Nähkästchen, vermittelt Eindrücke, schildert realistische Szenarien aus der Welt der Täter und Opfer, weist Lösungswege auf und zieht Grenzen, wo es notwendig erscheint. Was treibt diesen Kriminalisten aus Überzeugung an? „Es geht mir darum, Botschaften zu senden und ein Bewusstsein für die Dimensionen der Kriminalität zu schaffen“, bekennt Andreas Stenger auf Nachfrage dieser Redaktion, „wir wollen uns als Bürgerpolizei präsentieren. Das stärkt das Sicherheitsgefühl bei den Menschen.“
Er spricht sich für ein glaubwürdiges, nachvollziehbares Wirken der Gesetzeshüter im Land aus, bei dem es „keine Denk- und Kreativitätsblockaden“ geben dürfe. Schließlich gelte es, sich stets neuen ermittlungstechnischen Herausforderungen und analogen wie digitalen kriminellen Machenschaften zu stellen. Stengers 45-seitiges Dossier zum Impulsvortrag gleicht einem Tour d’Horizon unterschiedlich motivierter Straftaten. Fast jeder Fall ist anders gelagert – und bedarf eben anderer politischer Entscheidungen, juristischer Voraussetzungen, Präventivmaßnahmen und operativer Ermittlungsmethoden.
Stenger wollte von Kindesbeinen an Polizist werden
Es ist ein ganz weites Feld – jedoch lässt der oberste LKA-Verantwortliche in einem Punkt keinen Zweifel zu: Für ihn ist die harte Aufgabe gleichermaßen Beruf und Berufung, für Sicherheit, Recht, Ordnung und Freiheit einzustehen. Stenger wollte von Kindesbeinen an Polizist werden, hat alle Facetten des Außen- wie Innendienstes kennengelernt, machte sich in Heidelberg, Mannheim und beim LKA Baden-Württemberg einen Namen. Als Polizistin oder Polizist ist man stets Teil eines Teams. Selbst in kritischen Einzelsituationen seien uneingeschränkt Handlungsmaxime wie Vertrauen, Gemeinschaftssinn, Kollegialität und Teamspirit gefragt. Stenger ist – trotz aller Gefahren und Unwägbarkeiten – begeistert von seinem Metier, von den Möglichkeiten interdisziplinärer Zusammenarbeit, vom strategischen Potenzial des LKA und anderer Dienstbehörden, die nationale und internationale Probleme zu bewältigen haben.
Die Sicherheitsarchitektur für Polizistinnen, Polizisten und Behörden zu stabilisieren, ist eine Riesensache. „Cyberkriminalität ist transnational“, berichtet Stenger, „Verbrechen können mit einem Mausklick begangen werden – bei geringem Entdeckungsrisiko für die Täter.“ Das digitale Dunkelfeld des kriminellen Undergrounds sei enorm. Das Täter- und Akteursumfeld reiche vom kindlich-jugendlichen Technikfreak, Kleinkriminellen und ideologischen Hackaktivisten über Innentäter und organisierte Cyber-Kriminelle bis hin zu Cyber-Terroristen sowie zur Cyber-Spionage und -Sabotage von Militär- und Nachrichtendiensten.
Zahl an Drohnenüberflügen über militärische Anlagen um 316 Prozent gestiegen
Über 80 Prozent aller Cyber-Angriffe kommen aus China und Russland. Stenger erwähnt Attentate aus ganz Europa, illustriert, dass die Zahl an Drohnenüberflügen über militärische Anlagen (siehe Stetten am kalten Markt, Eckernförde, Grafenwöhr, Karlsruhe) um 316 Prozent gestiegen sei. Auch das Musterländle, im analogen Vergleich das sicherste aller 16 Bundesländer, sieht sich ständig Phänomenen wie der Ausspähung von Dissidenten, dem Zugang von Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) und der Präsenz von „Low-Level-Agents“ konfrontiert. „Mit Bürokratie packt man das nicht. Wir benötigen multidisziplinäre Teams, die der Komplexität von Cyberkriminalität entgegenwirken. Jedes Unternehmen muss inzwischen in Cybersecurity investieren.“ Baden-Württemberg hat mit der Zentralen Ansprechstelle Cybercrime (ZAC) die passende Antwort für Unternehmen und Behörden gefunden. Der plakative ZAC-Slogan: „Damit Sie im Netz niemandem ins Netz gehen.“
Am 1. Juli wurde eine neue zentrale Ermittlungseinheit zur Verhinderung von Geldwäsche ins Leben gerufen. 21 Polizeikräfte, 14 Steuerfahnder und acht Staatsanwälte bilden unter der Regie von Kriminalhauptkommissarin Eva Emnet eine schlagkräftige Truppe, die an die Hintermänner Organisierter Kriminalität kommen möchte. „Follow the money“ lautet die Devise. Schenkt man Fachleuten Glauben, dann beträgt der bundesweite Schaden durch Geldwäsche jährlich rund 100 Milliarden Euro.
„Unsere Leute können jederzeit in lebensbedrohliche Situationen kommen“
Von Formen der „OK“ wechselt Andreas Stenger zu schwerwiegenden Einzelfällen. Die tödliche Messerattacke auf den Mannheimer Polizisten Rouven Laur durch Sulaiman A. vom 31. Mai 2024 erhitzt nach wie vor die Gemüter und beschäftigt in einem sogenannten Staatsschutzverfahren die Gerichte. Vergangene Woche wurde Stenger vernommen. 120 Kräfte (LKA Baden-Württemberg, LKA Hessen, Bundeskriminalamt) haben ermittelt, fünf Terabyte Videomaterial wurden gesichtet, 1.000 Hatespeech-Hinweisen, 250 Spuren nachgegangen und über 100 Vernehmungen durchgeführt. „Besondere Dramatik ist entstanden, da das Video schnell viral gegangen ist. Es zeigt außerdem, dass unsere Leute jederzeit in lebensbedrohliche Situationen kommen können. Das macht etwas mit uns“, so Stenger angefasst, „dass die Situation so fatal enden kann, macht den Fall so schrecklich.“
Für einen Moment ist es mucksmäuschenstill im SRH-Foyer. Dreizehneinhalb Monate nach der Tat ist allen im Saal klar: Der „Tatort Zukunft“ ist ein ewiger Wettlauf, der Sensibilisierungen und Entmystifizierungen à la Stenger erfordert. Denn das Gemeinwohl unserer Gesellschaft ist höchst schützenswert.
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