Heidelberg. Polypen beleidigen, Straßenlaternen zerstören und betrunken pöbeln. All diese Dinge führten bis 1914 dazu, dass die schuldigen Studenten für einige Tage in den Heidelberger Studentenkarzer gesperrt wurden. Und gerade deshalb haben sich hunderte Studenten absichtlich daneben benommen – um sich an den Karzerwänden mit Malereien und Graffiti zu verewigen.
„Das gehörte so zum Ritual der Studenten“, erklärt Matthias Untermann, Professor am Institut für Europäische Kunstgeschichte. Die „Mutprobe“ sich in den Karzer sperren zu lassen sei Trend gewesen. Zum einen um „dazu zu gehören“ und zum anderen um sich an den Karzerwänden zu verewigen. Dies sei auch in anderen Karzern üblich – und wurde somit von den Wächtern offensichtlich nicht unterbunden. Die zahlreichen Malereien und Graffitis wurden nun in mehr als 2 000 Bildern digitalisiert und werden online frei zugänglich ausgestellt.
Kunstwerk soll erhalten bleiben
„Die Studenten haben mit untauglichen Farben auf untauglichen Untergrund gemalt“, sagt Untermann. Um den Karzer als Gesamtwerk der Studierenden des 19. und 20. Jahrhunderts zu erhalten, suchen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler derzeit nach der besten Lösung hierfür. Das Ziel: Die Farbe soll an den Wänden bleiben, möglichst im Original und ohne dass Maßnahmen wie Plexiglas nötig werden. Vor den Sanierungsarbeiten haben nun einige wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts für Europäische Kunstgeschichte die Digitalisierung und Analyse der Malereien umgesetzt. Ferhat Neptun, Jennifer Siebel und Verena Stein gehören zu ihnen.
Archivierung für Detektive
„Die Bilder sind nicht isoliert. Deshalb wurde es zu einer Detektivarbeit“, sagt Neptun, der seit Beginn der Arbeiten im August 2018 bei dem Projekt dabei ist. Zunächst habe er ein Bild der jeweiligen Wand gemacht. Dann ging es daran, die einzelnen Werke als solche zu identifizieren und mögliche Quellen dieser zu finden. „Von 1879 bis 1914 wurden fast alle Namen aufgezeichnet“, erklärt Neptun. So könne für fast alle Zeichnungen nicht nur der Urheber, sondern auch das genaue Datum ermittelt werden. Unter vielen Gedichten und Bildern steht auch ein Name sowie das Datum der Malerei. Für diese sei die Nachverfolgung mithilfe der Adressbücher der Universität Heidelberg nicht schwer gewesen.
Studentenkarzer Heidelberg: Besuchszeiten
- Der Heidelberger Studentenkarzer kann in der Augustinerstraße 2 in der Altstadt besucht werden.
- Öffnungszeiten sind Dienstags bis Samstags von 10.30 Uhr bis 16 Uhr.
- Der Eintritt zum Karzer sowie dem Universitätsmuseum kosten in Kombination 4 Euro – ermäßigt 3,50 Euro.
- Alle Malereien an den Karzerwänden und -decken können online unter www.arthistoricum.net/themen/bildquellen/hd-studentenkarzer/online angesehen werden.
- Online finden sich zudem Informationen über das Entstehungsdatum sowie die Urheber – auch dazu, was aus den ehemaligen Studenten geworden ist.
„Die meisten Malereien sind sogenannte Schattenrisse“, zeigt Neptun an den Wänden. So heißen die schwarzen Selbstdarstellungen, die Köpfe von der Seite zeigen, auf denen die Mützen der verschiedenen Studentenverbindungen sitzen. „Sicherlich auch weil diese am einfachsten waren“, fährt er lachend vor. Untermann ergänzt, dass diese sicherlich auch von dem damaligen Zeichenlehrer durchgenommen wurde, weshalb viele Studenten die Arbeit innerhalb der zwei Tage ihres Aufenthalts vollenden konnten.
Neben den Schattenrissen sind jedoch auch aufwendigere Malereien zu finden. Hierzu gehören auch die Wappen unterschiedlicher Studentenverbindungen und Burschenschaften. Für diese saßen die Studenten länger ein, erklärt Untermann: „Bei kleineren Vergehen saßen die Studenten zwei Tage. Bei ernsteren Vergehen bis zu zwei Wochen.“
Doch vor allem die aufwendigen Kunstwerke mussten sich Studenten auch leisten können. Ein Aufenthalt im Karzer musste auch bezahlt werden – hauptsächlich das Essen und der Lohn des Wächters. So geht aus den Nachforschungen Neptuns auch hervor, dass besonders viele Studenten mit adeliger Herkunft im Karzer saßen. Bürgerliche Insassen sind dagegen weniger vertreten.
Stargardts sieben Karzerbesuche
Der Student mit den wohl meisten Malereien oder Gedichten war Karl Stargardt. Ganze sechs Mal sind Werke von ihm zu finden – und auch eines der 300 Bilder, die Studenten hinterlassen haben zeigt ihn. Im Jahr 1895 hat er innerhalb von drei Tagen direkt am Eingang zum Karzer eines der längsten Gedichte verfasst. In diesem erzählt er, wie er mit einem Kommilitonen nachts zehn Frösche in den Garten einer Pension warf, die daraufhin die Nachbarschaft aufweckten. Eine Tat, die die Studenten in den Karzer brachte. Nach seinem Studium wurde Stargardt Augenspezialist in Kiel.
Auch über den Verbleib der anderen Studenten hat Neptun Informationen gefunden. Diese finden Interessierte in der digitalen Ausstellung.
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