Edingen-Neckarhausen. Nach Monaten in Untersuchungshaft endete am Heidelberger Landgericht am Montagmittag der Prozess gegen den Ukrainer Serhii K. (Jahrgang 1977) mit einem überraschenden Freispruch. Die 2. Große Strafkammer unter Vorsitz von Richter Jochen Herkle entschied im Urteil auf Notwehr. Der Angeklagte hatte in der Nacht vom 11. auf den 12. September 2024 in der Edinger Flüchtlingsunterkunft „Am Nussbaum“ auf seinen gleichaltrigen Landsmann Oleg B. eingestochen und diesen tödlich verletzt.
Staatsanwaltschaft hatte im Verfahren auf Totschlag plädiert - Verteidigung forderte Freispruch
Staatsanwältin Jenny Schiefer hatte auf eine Haftstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten wegen Totschlag plädiert – und überlegt nun, ob sie Revision vor dem Bundesgerichtshof einlegt. Verteidiger David Vollert de Hendik hatte in seinem Plädoyer Freispruch wegen Notwehr gefordert. Serhii K. verlies den Gerichtssaal als freier Mann.
Am Morgen war der Angeklagte noch mit Fußfesseln vor Gericht erschienen. „Nehmen Sie ihm diese Schließen sofort ab“, forderte nach dem Urteil Richter Jochen Herkle das Justizpersonal auf. Dass der gewaltsame Tod eines Menschen in einem Schwurgerichtsverfahren mit einem Freispruch ende, sei auf den ersten Blick durchaus überraschend, auch weil der Angeklagte die Tat eingeräumt habe, betonte der Vorsitzende am Beginn seiner ausführlichen Begründung. „Aber, wer angegriffen wird, darf sich verteidigen, auch mit gefährlichen Mitteln“, stellte Herkle klar.
Zuerst ein „fürsorgliches Miteinander“ gepflegt
1977 in der Ukraine geboren, als Bau- und Architekturstudent gescheitert, verfallen in einen ausschweifenden Alkohol- und Drogenkonsum – und schließlich als Kriegsflüchtling in Edingen gelandet, so schilderte der Richter den Werdegang des Angeklagten.
In der Unterkunft habe er dann den ebenfalls alkoholkranken Oleg B. kennengelernt. Die beiden hätten zuerst ein „fürsorgliches Miteinander“ gepflegt, doch schließlich sei die Beziehung der hochgradig alkoholkranken Männer nur noch auf die Beschaffung und den Konsum von Alkohol ausgerichtet gewesen. Außerdem hätten die Streitereien sowie ihre mangelnde Sauberkeit in der Flüchtlingsunterkunft zu großem Ärger bei den Mitbewohnern geführt und das Duo zunehmend isoliert. Auch habe Oleg B. seinen stark seh- und gehbehinderten Kumpel immer wieder drangsaliert und beleidigt.
Dann schilderte Herkle die entscheidenden Stunden: Am Tattag hätten die beiden wieder ausgiebig Wodka und Bier getrunken, sich gegen Abend zum Schlafen hingelegt, um nach dem Aufwachen nach weiteren Wodkaflaschen zu suchen. Das spätere Opfer habe seinen Kompagnon aufgefordert, bei der nahegelegenen Tankstelle für Nachschub zu sorgen. Doch die Tanke hatte geschlossen, was Oleg B. zu Beleidigungen wie „blinder Hund“ und „Krüppel“ veranlasste. In einem „dynamischen Streit“ soll er dann auf Serhii K. mit einer Flasche losgegangen sein, ihn mit dem ersten Schlag knapp verfehlt haben – und da habe der Angeklagte nach dem Küchenmesser gegriffen und zugestochen.
Das Opfer sank aufs Bett, habe noch eine Brezel angeknabbert und wohl ein paar Worte mit seinem Mitbewohner gewechselt. „Schlaf jetzt“, soll Serhii K. gesagt haben. „Dass der Mann lebensgefährlich verletzt war, blieb dem Täter zunächst verborgen“, sagte der Richter. Erst am nächsten Tag habe er seine Tat realisiert und die Integrationsmanagerin informiert.
Staatsanwältin sieht keine Notwehrsituation
„Das Handeln in Verteidigungsabsicht war dem Angeklagten nicht zu widerlegen“, betonte der Vorsitzende Herkle – auch wenn klassische Notwehraspekte nicht vorgelegen hätten. Maßgeblich seien die Einlassungen des Beschuldigten in der Hauptverhandlung gewesen, „die nicht zu erschüttern waren“. Die Messerattacke sei notwendig gewesen, um weitere Angriffe des Kontrahenten zu unterbinden. Dabei spiele die Sehbehinderung sowie der exzessive Alkoholgenuss des Täters beim Stich in den Oberkörper eine wichtige Rolle, so der Richter.
Staatsanwältin Schiefer war da in ihrem Plädoyer anderer Meinung. Eine Notwehrsituation sei durch die Aussagen des Angeklagten nicht gedeckt. Oleg B. habe mit der Flasche lediglich „herumgefuchtelt“. Deshalb gehe sie von Totschlag mit direktem Vorsatz aus. Strafmildernd wirke sich das Geständnis des Angeklagten aus, seine Reue – und dass ihn Oleg B. laufend drangsaliert und beleidigt habe.
Richter entlässt Ukrainer mit mahnenden Worten
Verteidiger Vollert de Hendrik führte in seinem Plädoyer außerdem aus, dass die Flüchtlingsunterkunft in Edingen mit den beiden alkoholkranken Männern „massiv überfordert“ gewesen sei. So habe die notwendige Betreuung nicht funktionieren können. Und als in der besagten Septembernacht Oleg B. in einem Wutausbruch ausgerastet sei und mit der Wodkaflasche im elf Quadratmeter großen Zimmer zum Schlag ausgeholt habe, „war es in der zugespitzten Situation erforderlich, dass sich mein Mandant verteidigen musste“.
„Sie haben gesehen, wozu übermäßiger Alkoholgenuss führen kann“, entließ Richter Herkle mit mahnenden Worten den Ukrainer in die Freiheit. Durch die Abstinenz in der Untersuchungshaft habe Serhii K. nun die Chance, mit therapeutischen Maßnahmen an seinem Alkoholproblem zu arbeiten. Rechtsanwalt Vollert de Hendrik sicherte seinem Mandanten dabei seine Unterstützung zu. Unklar war an diesem Montagmittag, ob Serhii K. jetzt in die Unterkunft nach Edingen zurückkehren kann.
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