Speyer. „Zum tot sein war ich nicht bereit“. Als Julia Gauly diese Zeilen am 16. Februar 2019 in ihr Krankheitstagebuch schreibt, hat sie den wohl schwierigsten Teil des Weges aus der Essstörung bereits hinter sich. Sie erinnert sich, dass sie ein Jahr zuvor lediglich ein Schatten ihrer selbst gewesen ist - ein leichenblasses Gerüst aus Haut und Knochen. 39 Kilogramm wiegt die 1,71 Meter große BWL-Studentin zu diesem Zeitpunkt. Physisch und psychisch abgewirtschaftet, entscheidet sie sich Anfang 2018 dafür, den Kampf ihres Lebens anzutreten. Heute, vier Jahre später, ist sie mit sich im Reinen und blickt positiv auf ihre Zukunft. Sie weiß aber auch: Magersucht ist wie Alkoholismus - komplett weg davon ist man vielleicht nie.
Es beginnt irgendwann nach dem Abitur. Mit einer Freundin geht sie auf eine große Freiheitsreise. Thailand, Indonesien, Neuseeland, Aus-tralien, USA - die üblichen Ziele. Auf Kohlenhydrate will die 19-Jährige damals verzichten, um abzunehmen. Wie sich später herausstellt, ist es im Spätjahr 2015 der Beginn einer stetigen Abwärtsspirale. Ihre größte Angst war, nach einer solchen längeren Reise mit mehr Gewicht zurück zu kommen. „Aus dieser Panik wurde eine Art ,Einstellung‘“, schreibt sie in ihrem Blog.
Die Reise beenden die beiden jungen Frauen vorzeitig nach vier Monaten. Richtig genießen kann sie die Zeit nicht - die „Diät“ behält die Speyererin aber bei. Zwei Jahre vergehen, in denen Julia Gauly stetig abnimmt. Was sie bewusst überhört, das sind die Appelle ihrer vertrauten Mitmenschen. Christoph, ihr Freund, damals erst recht kurz mit ihr zusammen, steht fast hilflos da. Seine Lebensgefährtin beschränkt sich fortan auf fünf bis zehn Lebensmittel. Hier Salat, da eine klare Brühe, mal ein Rührei - 500 Kalorien täglich, mehr auf keinen Fall.
„Alles hat mit Essen zu tun“, beschreibt sie eine Erkenntnis aus der damaligen Zeit, in der sie sich krank gehungert hat. Ihre Wahrnehmung ist zu diesem Zeitpunkt aber anders: „Je mehr ich abgenommen habe, desto dicker habe ich mich gefühlt“, sagt sie.
Zerrbilder im Kopf
Glücklich ist sie nicht. Selbstbewusstsein wenig, Selbstwertgefühl quasi null. Nur noch einem Glas Alkohol kann sie mal wieder lachen. Heute weiß sie, wie oft sie sich damals selbst angelogen hat. Ihr Body-Mass-Index (BMI) sinkt sukzessive auf den bedenklichen Wert von 13. „Was mein Körper trotzdem noch alles geschafft hat, ist unglaublich“, sagt sie jetzt.
Tatsächlich handelt es sich bei einer Magersucht (Anorexie) um eine Wahrnehmungsstörung. Sinneseindrücke werden im Zentralnervensystem falsch verarbeitet. Prozesse im Gehirn laufen nicht richtig ab. „Warum bin ich immer noch so dick, ich esse doch fast nichts mehr?“, lautet eine Frage, die sich Julia Gauly wie andere Leidende stellt. Das Wiegen ist in dieser Zeit ein tägliches Ritual. „Wenn ich zugenommen hatte beeinflusste das meine Gedanken, mein Handeln und meine Stimmung. Es war ein schreckliches Gefühl“, erinnert sie sich. Auf eine Therapie in einer Spezialklinik in Bad Staffelstein wartet sie Ende des Jahres 2017 zehn Wochen lang. Etwa 24 Monate ist sie da bereits krank. „Ich hatte schon Wasser im Herzen“, sagt sie. Nachts quälen sie manchmal Attacken mit Herzrasen. Dass sie sich entscheidet, eine 180 Grad-Wendung in ihrem Leben vorzunehmen, hat viel mit ihrer jüngeren Schwester zu tun, die sie fast weinend anfleht, sich helfen zu lassen.
Sechs Monate in der Klinik
Julia Gauly löscht ihren Instagram-Account. In ihrem Tagebuch schreibt sie: „Ich wollte Abstand zu den ganzen anderen Profilen schaffen, auf denen andere Frauen genau dasselbe taten - ihre Körper zur Schau stellen. Ich wollte mich nicht mehr damit vergleichen müssen. Es tat gut, eine Zeit lang das alles zur Seite schieben zu können und mich voll auf die Therapie konzentrieren zu können.“ Sechs Monate vergehen im bayrischen Bad Staffelstein, wo strenge Regeln herrschen. Die damals 22-Jährige fühlt sich anfangs ein wenig wie im Gefängnis. Täglich gibt es mehrere Mahlzeiten, die sie unter Beobachtung aufessen muss. Das Zimmer wird einige Stunden mit Videokamera kontrolliert - auch um zu sehen, dass sich niemand den Finger in den Hals steckt. Freiheiten werden an Behandlungserfolge geknüpft. Es ist die schlimmste, gleichzeitig aber wohl bedeutendste Zeit ihres bisherigen Lebens. Es geht um nichts anderes, als den Weg zurück in ein normales Dasein.
Im Januar 2022 ist Julia Gauly sich über ihr Leben und die Bedeutung von Ernährung sehr bewusst. Die vergangenen vier Monate hat sie in Paris beim Auslandsstudium verbracht. Erstmals wohnt sie ganz alleine und hält sich diszipliniert an Essenszeiten. Sie kennt sich inzwischen selbst und weiß, auf was sie achten muss. Noch im vorangegangenen Jahr schreibt sie in ihr Tagebuch, dass sie sich zum Beispiel merkt, was ihre beste Freundin beim gemeinsamen Essen bestellt hat und ob sie alles aufgegessen hat. Noch immer spürt sie zu diesem Zeitpunkt die unbewusste Angewohnheit, auf diese Dinge zu achten und ihre Mahlzeit damit zu vergleichen. Auch das habe sie inzwischen im Griff.
Ihren Instagram-Account hat Julia Gauly inzwischen wieder aktiviert - aus reinem Spaß, wie sie sagt. Nicht mehr, um sich zu vergleichen. 82 500 Menschen folgen ihr.
Hilfe für Magersüchtige: https://juliagauly.wixsite.com/website
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