Ärztin im Interview - Welche Folgen haben Schulschließungen und Kontaktbeschränkungen für die seelische Gesundheit junger Menschen?

Kinder und Jugendliche in der Pandemie: „Drastischer Anstieg bei Fällen von Magersucht“

Von 
Julian Eistetter
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Die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des St. Annastiftskrankenhauses in Ludwigshafen verzeichnet in der Pandemie mehr Fälle von Magersucht. © Istock/Hein

Ludwigshafen. Rebekka Schwarz, Leitende Oberärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie des St. Annastiftskrankenhauses in Ludwigshafen, spricht im Interview über die Folgen der Pandemie auf die seelische Gesundheit junger Menschen.

Frau Schwarz, wurden Kinder und Jugendliche in der Pandemie aus Ihrer Sicht von der Politik vernachlässigt?

Rebekka Schwarz: Es wurden und werden Fehler gemacht. Wenn wir zwischen Corona und einer seelischen Erkrankung abwägen, dann kommen wir gerade im psychiatrischen Bereich zu dem Ergebnis: Wir müssen uns wieder mehr der seelischen Gesundheit der Kinder und Jugendlichen widmen. Nicht alle Corona-Maßnahmen dürfen das toppen, so schlimm das auch klingen mag. Denn auch seelisch erkrankte Jugendliche sind krank. Und wir haben es mit Krankheiten zu tun, die zu einer hohen Chronifizierung neigen. Es sind sicher viele darunter, die in ihrer weiteren Entwicklung bedroht sind. Das duldet keinen Aufschub.

Nach fast zwei Jahren mit Lockdowns und Kontaktbeschränkungen lässt sich also sagen, dass die Pandemie seelische Schäden bei Kindern und Jugendlichen verursacht?

Schwarz: Ja. Im vergangenen Jahr war das noch nicht ganz eindeutig. Schon da wiesen einige Studien darauf hin, dass es vermehrt psychische Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen gibt. Es war eine hohe Form der emotionalen Belastung da. Doch jetzt sehen wir so langsam, was da noch alles nachkommt. Die Anfragen nehmen deutlich zu und die Wartezeiten erhöhen sich - teilweise auf mehr als ein halbes Jahr. Das heißt, von den Patienten, die jetzt belastet sind, können viele gar keine akute Hilfe erhalten.

Welche Erkrankungen treten bei jungen Menschen am häufigsten als Folge der Pandemie auf‘?

Schwarz: Wir haben einen drastischen Anstieg bei Fällen von Anorexie. Das ist tatsächlich das offensichtlichste Störungsbild, bei dem wir ab etwa Mai 2020 eine regelrechte Explosion an Anfragen erlebt haben. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir auf unserer Jugendstation teilweise 80 Prozent der Patienten mit Essstörungen. Aktuell sind es im Jugendbereich noch etwa 50 Prozent und auf der Kinderstation 30 bis 40. Es sind vor allem jugendliche Patientinnen ab zwölf oder 13 Jahren aufwärts, die eine Gewichtsabnahme zu verzeichnen haben und in eine Magersucht gerutscht sind. Zunächst konnten wir uns dieses bundesweite Phänomen nicht erklären.

Und heute?

Schwarz: Inzwischen gibt es Erklärungsansätze, da sich die Geschichten immer wieder gleichen. Wir haben es häufig mit Jugendlichen zu tun, die sehr leistungsorientiert sind und sich viel Bestätigung durch gute Schulleistungen holen. Das ist ihnen gerade in der Phase der ersten Schulschließungen von heute auf morgen weggebrochen. Dann hat man sich vielleicht noch mit Sprüchen verabschiedet: „Passt auf, dass wir nicht alle mit ein paar Kilo mehr aus dem Lockdown kommen.“ Und wenn jetzt Mädchen eine gewisse Selbstunsicherheit mit sich bringen, dann kann das schon eine Beeinflussung sein. Sie suchen sich eine andere Struktur durch ritualisierte Sportprogramme, folgen Youtubern mit krassen Workouts, fangen an, weniger zu essen und Kalorien zu zählen. Und dann kommt eben auch die Gewichtsabnahme und die tägliche Bestätigung, die sie suchen.

Fehlt auch die Bestätigung von Freundinnen oder Freunden in der täglichen Interaktion?

Schwarz: Das macht tatsächlich nur wenig aus. Das sind Bestätigungen, die die Mädchen oft nicht wirklich glauben. Darüber ziehen sie letztlich kaum Selbstbewusstsein.

Sind auch Jungs von Magersucht betroffen?

Schwarz: Wir haben sehr wenige männliche Patienten mit Anorexie. Stationär hatten wir Pandemie-bedingt keinen einzigen. Ambulant gibt es vereinzelte Fälle, aber das ist überwiegend ein Störungsbild von Mädchen.

Wird eine kritische Gewichtsabnahme von den Eltern nicht schnell bemerkt?

Schwarz: Das ist ganz unterschiedlich. Eltern, die wegen der Pandemie vielleicht auch im Homeoffice sind, bekommen das schneller mit. Manchmal läuft das dann aber so, dass die Eltern sich erstmal über gewisse Aspekte freuen: „Oh, meine Tochter beschäftigt sich mit gesünderer Ernährung und geht jeden Morgen joggen.“ Das wird zunächst positiv erlebt. Und manchmal kriegen die Erziehungsberechtigten dann den Punkt nicht mit, an dem es kippt. Es gibt also Patientinnen, die werden relativ frühzeitig vorstellig. Andere sind bereits stark abgemagert, wenn sie zu uns kommen.

Rebekka Schwarz - Oberärztin für Kinder-, Jugendpsychiatrie und Psychotherapie



  • Seit drei Jahren ist Rebekka Schwarz (42) Leitende Oberärztin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des St. Marien- und St. Annastiftskrankenhauses, die sie auch kommissarisch leitet.
  • Die Klinik bietet fachliche Hilfen für junge Menschen bis zum 18. Lebensjahr, die unter akuten oder andauernden psychischen, psychosomatischen und neuropsychiatrischen Problemen, Störungen und Erkrankungen leiden.

 

Bei welchen Alarmsignalen sollten Eltern hellhörig werden?

Schwarz: Ein Alarmsignal ist etwa, wenn Kinder oder Jugendliche keine gemeinsamen Mahlzeiten in der Familie mehr wahrnehmen. Wenn Ausreden gesucht werden, um diesen fernzubleiben. Es ist auffällig, dass sich viele Patientinnen sogar explizit mit dem Thema Kochen und Backen beschäftigen. Sie kochen und backen für die Familie und sagen dann: „Ach, ich habe jetzt schon so viel probiert, ich bin schon satt.“ Da müssen Familien sehr gut hinschauen.

Wie geht es weiter, wenn die Patientinnen zu Ihnen kommen?

Schwarz: Magersucht ist auch eine körperliche Erkrankung. Wir müssen uns also zuerst angucken, in welchem Zustand die Patientinnen sind. Es geht immer um die Entscheidung, was die richtige Behandlungsform ist, und ob man noch einen ambulanten Versuch machen kann. In der Folge gibt es dann Vorgaben, bestimmte Gewichte zuzunehmen. Oder eben intensivere Behandlungen, die dann meist stationär stattfinden.

Wie viele der Patientinnen schaffen es zurück zu einer normalen Nahrungsaufnahme?

Schwarz: Kinder- und Jugendpsychiatrie ist leider nicht immer eine Erfolgsstory. Es gibt einen gewissen Prozentsatz, der hier mit einem guten Zielgewicht rausgeht. Im Anschluss ist immer auch eine ambulante Weiterbehandlung von ein bis zwei Jahren notwendig. Und es ist nicht mal ein großer Beinbruch, wenn man auch ein zweites oder drittes Mal in die Klinik muss. Mit der Heilung ist es bei psychischen Krankheiten sowieso so eine Sache. Ein weitaus größerer Teil hat weiterhin Auffälligkeiten im Essverhalten und tut sich mit bestimmten Nahrungsmitteln noch lange oder sogar das ganze Leben lang schwer. Eine Anorexie ist auch nach wie vor eine Erkrankung mit erhöhter Sterblichkeit. Deswegen ist eine schnelle Behandlung umso wichtiger.

Beobachten Sie noch weitere Auswirkungen der Pandemie auf die seelische Gesundheit von Kindern?

Schwarz: Bestimmte Störungen haben schon vor der Pandemie zugenommen. Ob diese nun noch häufiger geworden sind, da müssen klinische Studien abgewartet werden. Wir wissen etwa, dass missbräuchlicher Medienkonsum deutlich zugenommen hat. Die Mädels halten sich in den sozialen Medien auf, bestreiten teilweise ihr Leben darüber und sind gar nicht mehr in der Realität. Bei Jungs sind es dann mehr Zockerspiele, die altersunangemessen sind. Durch Studien ist zudem klar untermauert, dass Familien, bei denen es schon vor der Pandemie Schwierigkeiten gab, im Moment besonders schlecht da rauskommen.

Sind die langfristigen Folgen schon heute absehbar?

Schwarz: Ich wurde schon häufiger gefragt, ob es Entwicklungen gibt, die nicht mehr aufhaltbar sind. Das lässt sich im Moment schwer absehen. Aus der klinischen Erfahrung sehe ich, dass bei einigen Jugendlichen, die in den vergangenen beiden Jahren in ihrer Pubertät eine Autonomieentwicklung durchmachen sollten - weg von der Familie hin zu Freundschaften -, dieser Ablösungsprozess ausgeblieben ist durch die Lockdowns. Man wird sehen, ob sie das nachholen können.

Redaktion Reporter Region, Teamleiter Neckar-Bergstraße und Ausbildungsredakteur

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