Speyer. Die Musikerinnen und Musiker des Barockorchesters „L’arpa festante“ sitzen vor der ersten Bankreihe, die Sängerinnen und Sänger des Speyerer Domchors haben sich auf die Stufen vor den Altar gestellt. Die Nähe zum Publikum im Dom schafft eine vergleichsweise intime Atmosphäre. Der Anlass des Konzerts wird so in einer andächtigen Haltung gewürdigt: Eine Woche vor Ostern beherrscht die Passion Jesu das liturgische Geschehen. Allenthalben ist Trauerstimmung zu spüren.
Johann Sebastian Bach färbt sie mit warmen Streicherklängen und zwei Oboen ein. Seine Bearbeitung der Johann Kuhnau zugeschriebenen Motette „Der Gerechte kommt um“ lässt den Schmerz über das Leiden Jesu im ruhigen Fließen und im sanft federnden Rhythmus sinnfällig werden. Der Speyerer Domchor widmet sich der Motette mit getragenem Ausdruck und in diskreter Artikulation.
Der auf den alttestamentlichen Propheten Jesaja zurückgehende Text leistet nicht ausschließlich eine Personifizierung des Leidens, sondern universalisiert die Erfahrung von Ungerechtigkeit in einer Welt, die zu oft das Böse über das Gute siegen lässt. Worte eines Propheten vor mehr als 2500 Jahren, die ihre Gültigkeit nicht verloren haben.
Passionskonzert in Speyerer Dom: Aus der Sicht der Mutter
Joseph Haydns Werk „Stabat mater“ lenkt die Aufmerksamkeit auf Maria, die das unerhörte Geschehen auf Golgatha aus der Sicht einer Mutter miterleben muss. Das Werk erklingt in der Erstfassung mit Streichern und Oboen beziehungsweise in einigen Teilen mit Englischhorn. Der Domchor ist nun im Wechsel mit vier Gesangssolisten zu vernehmen, die herausragend besetzt sind: Annemarie Pfahler (Sopran), Ulrika Malotta (Alt), Fabian Kelly (Tenor) und Magnus Piontek (Bass) vereinen gesangliche Kunst mit Ausdrucksintensität auf hohem Niveau. Obendrein bilden die Sängerinnen und Sänger unterschiedliche Gesangsformationen, von denen das Quartett „Virgo virginum“ mit Chor und Orchester sicher zu den Höhepunkten dieses Konzerts gehört.
In den differenzierten dynamischen Entwicklungen im Orchester, den affektbezogenen Instrumentaleinsätzen wie in den Gesangsstimmen, in denen Betroffenheit und Erschütterung über die Leiden Christi, aber auch die Bitte um Erhörung im Gebet formuliert werden, lässt sich Haydns „Stabat mater“ als Werk nachverfolgen, das dem neutestamentlichen Bericht über die letzten Stunden Jesu Farbe gibt. Haydns Klangsprache – es herrschen überwiegend Dur-Tonarten vor – ist gleichwohl das Dokument einer klassisch gemäßigten Interpretation des Sterbens und des Todes jenes Gerechten, dem noch bei Bach die persönliche Erschütterung des Komponisten galt.
Dennoch mischt sich gerade in den Arien der vier Vokalsolisten Empörung und Trotz im Angesicht sinnlosen Leidens, legt der Chor in der Identifikation des Librettisten mit der Mutter Jesu Fassungslosigkeit in die Stimmen und wandelt sich die Trauer am Ende hörbar in siegreiche Hoffnung – der Glanz des Paradieses, dem Ursprung und der Utopie christlichen Glaubens, fällt auf diese Tage, in denen kirchlich gesehen noch das große Schweigen vor dem Sturm herrscht.
Domkapellmeister Markus Melchiori leitet einen sehr sensibel agierenden und impulsiv reagierenden Domchor mit wohlklingenden, homogen aufeinander bezogenen Stimmen. Das Barockorchester „L’arpa festante“ gibt dem Gesang ein nie überzogenes, aber stets verlässliches Geleit. Wenn am Ende dieses Werkes sich die Furcht vor dem ewigen Feuer in das Erleben der Gnade wandelt, vom göttlichen Gnadenlicht erwärmt zu werden, zieht etwas Frühlingsstimmung in den unterkühlten Dom ein. Schließlich kann nicht ewig Trauerstimmung herrschen.
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