Speyer. „Ich habe nie geglaubt, dass ich 85 Jahre alt werde“, sagt Daoud Hattab und lächelt. Er ist sicher nicht der Einzige, der das von sich behauptet. Ein Blick auf sein Leben zeigt, dass Hattab jedoch von einer besonderen Robustheit gesegnet sein muss. 1961 kam er aus dem Irak nach Speyer. Die Pfalz ist ihm in den folgenden Jahrzehnten zur Herzensangelegenheit geworden.
Hattab ist kein Mensch der unnötigen Worte. Zu erzählen hat er allerdings viel. Von seiner Kindheit in Mossul in der Nähe der irakischen Hauptstadt Bagdad, von seiner Lehre bei der Glaswerkstatt parallel zur Dolmetscherschule in Germersheim, von der Bild-Zeitung zur Sprachförderung und von seiner Karriere, die er beim Unternehmen Mercedes an allen drei Standorten - Mannheim, Wörth, Stuttgart - hinlegte.
Speyerer fasst seine Lebensgeschichte in Youtube-Interview zusammen
Es ist nicht die Lebensgeschichte eines Mannes, der aus der Heimat auszog, um woanders Fuß zu fassen. Vielmehr gibt Hattab einen tiefen Einblick in sein Wesen, das von Tatkraft, Leistungsbereitschaft, Überzeugung und Zielstrebigkeit geprägt ist. Was er bei einem Interview für die Internetplattform YouTube in drei Stunden zusammengefasst hat, dauerte in Wahrheit 85 Jahre, die der irakische Speyerer an diesem Montag, 5. August, mit großer Gesellschaft feiert.
Der Geschichte über harte Arbeit - sowohl beruflich als auch im Ehrenamt - schickt er voraus: „Ich hatte die ganzen Jahre über ein schönes Leben, schon als Kind im Irak.“ Christen, Juden, Muslime - sie wohnten nebeneinander. Anfeindungen gab es nicht. Über die Bilder der heutigen Zeit grübelt Hattab andauernd. „Was wir momentan sehen, erschreckt mich immer wieder“, betont der aufgeschlossene Mann, der sich seit seiner Ankunft in Speyer politisch und sozial engagiert hat.
Die CDU stützt er, ist Vorsitzender der Seniorenunion, Mitglied im Seniorenbeirat und im Beirat für Migration und Integration, dessen Vorsitz er mittlerweile seiner Tochter Nadja vererbt hat. Sie hat auch das Foto ausgesucht, das auf der Einladung zum Geburtstagsfest gedruckt ist: Hattab auf einem silbernen Roller. Auch der hat eine (Vor-)Geschichte.
800 Mark brachte er vom Irak mit nach Speyer
„Als ich nach Speyer kam, bin ich monatelang gelaufen“, berichtet der Jubilar. Die 800 Mark, die er bei seiner Einreise aus dem Irak mitgebracht hatte, hütete er wie einen Augapfel. „Die waren für den Rückflug gedacht. Ich wollte bei den Glaswerken nur meinen Meister machen und eine Maschine für den heimischen Betrieb mitnehmen“, erklärt Hattab.
Nach dem deutschen Mauerbau stand er auf der Straße. Die Glaswerke gab es nicht mehr. Schlechte Nachrichten kamen parallel aus dem Irak: Die familieneigene Firma war verstaatlicht worden. Hattab blieb, fand eine Arbeit bei Siemens für eine Mark die Stunde. „Ich habe keine Unterstützung bekommen und hätte sie nie auch genommen. Lieber hätte ich gehungert“, macht er deutlich, dass Arbeit für ihn zum Leben dazugehört.
Das versucht er als Ansprechpartner für eingereiste Ausländer zu vermitteln, neben vielen anderen Werten. „Integration muss von beiden Seiten kommen“, unterstreicht Hattab. Er nennt das Beispiel eines syrischen Vaters, der mit seinem Sohn im ehemaligen Stiftungskrankenhaus untergebracht ist und nach zwei Jahren noch nicht wusste, wo der Dom ist und es nicht schaffte, trotz exakter Hinweise mit dem Bus von A nach B zu fahren.
Wohnung, Essen, Anschaffungen: Speyerer sorgte selbst für Eingliederung
„Das macht mich furchtbar traurig“, hebt Hattab hervor. Denn er denkt an seine eigene Eingliederung, für die er sich selbst zur Verantwortung gezogen hat. „Ich habe selbst für eine Wohnung, für Essen und Anschaffungen gesorgt. Und ich habe mich selbst erkundigt, was ich wo erledigen muss“, zeigt er auf. Aber: Die Bürokratie sei zu seiner Zeit noch nicht so schwierig gewesen wie heute.
„Die Menschen fühlen sich verloren“, macht er deutlich. Hattab fühlt mit ihnen, weiß, dass sie Hilfe brauchen. Eine Brücke möchte der Träger der Verdienstmedaille des Landes Rheinland-Pfalz sein, der als gelernter Kfz-Mechaniker bei Daimler aufsteigt und als Schulungsbeauftragter durch die Welt reist.
Seine Frau Roswitha, die er 1970 heiratet und mit der er Tochter Nadja und Sohn Alexander hat, stärkt ihm stets den Rücken - erst zwei Jahre an seiner Seite in Algier, dann von zuhause in Speyer aus. Die Domstadt ist seit 63 Jahren Hattabs Heimat. Ihr möchte er nach wie vor durch sein Wirken etwas zurückgeben. Dafür lernte er sogar hiesige Traditionen nicht nur kennen, sondern auch lieben. Konkret: die Fasnacht. Acht Jahre leitete Hattab die Speyerer Karnevalgesellschaft (SKG) als Präsident.
Den Karneval hat Daoud Hattab erst in Speyer kennen und lieben gelernt
Karneval? Den kannte Hattab, beziehungsweise glaubte es. Im Irak verkleiden sich die Menschen an Silvester, um das neue Jahr zu feiern. Dass Fasching hierzulande nicht nur einen Tag, sondern mehrere Wochen dauert, gefällt Hattab bis heute. „Ich liebe die Fasnacht über alles, weil alles, was geboten wird, Kunst ist und Arbeit dahintersteckt“, untermauert er.
Und weil das Geburtstagskind generell Menschen liebt. Im Brezelfestzelt hat er als junger Mann schon Lieder mitgegrölt, deren Text er noch gar nicht verstand. Hattab hat sich selbst integriert. Bis die heutige Situation sich zum Guten wendet und alles „geschafft“ ist, wird es noch ein paar Generationen dauern, meint er jedoch. Solange es die Gesundheit mitmacht, wird Hattab weiter vermitteln, erklären, da sein. Angerufen wird er inzwischen nicht nur von Ausländern in Speyer. Auch aus Köln oder Düsseldorf, aus Frankreich oder England hatte er schon Menschen am Apparat.
Jetzt freut sich Hattab erst einmal auf sein Geburtstagsfest im Haus Pannonia. Gut 100 Personen erwartet er dort, neben der Familie vor allem diejenigen, mit denen er sein Engagement für Speyer und die Bürger teilt.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/metropolregion_artikel,-speyer-ueber-die-speyerer-grenzen-hinaus-als-vermittler-und-erklaerer-bekannt-_arid,2231515.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html