Speyer/Chichester. Wenn am Donnerstag, 4. Juli, in Großbritannien die Parlamentswahlen starten, dann liegt in aktuellen Meinungsumfragen Labour als bisherige Oppositionspartei mit über 40 Prozent der Stimmen vorne, während die noch regierenden Tories von Premierminister Rishi Sunak bei etwas über 20 Prozentpunkten dümpeln. Menschen aus Chichester erzählen hier über die Wahl, die aktuellen Probleme und die künftigen Herausforderungen.
Alle, mit denen ich während meiner 14-tägigen Reise durch den Süden des Landes gesprochen habe, sind müde von 14 Jahren Tory-Regierung in England. Im Stadtrat der englischen Partnerstadt, der von der Liberalen Partei dominiert wird – 17 von 18 Ratssitzen werden seit der letzten Kommunalwahl von den Liberalen gehalten – wurden die Tories längst abgestraft und haben alle Sitze verloren. Viele gesellschaftliche Probleme, verursacht durch die strikte Kürzung öffentlicher Gelder und die Privatisierungspolitik der Konservativen der letzten Jahrzehnte, treibt den Bürgern von Chichester die Sorgenfalten ins Gesicht. Umweltskandale wie die ungeklärte Ableitung von Abwässern in den Hafen von Chichester, die ökonomische Krise und der Brexit, leer stehende Läden in der Fußgängerzone, die zunehmende Verarmung der Mittelschicht und die Flüchtlingskrise sind die viel zitierten Stichworte dazu.
Speyerer Partnerstadt: Bevölkerung wächst in Chichester trotz hoher Immobilienpreise
Gleichwohl ist Chichester eine attraktive Stadt geblieben. Die Immobilienpreise sind hoch, die Bevölkerung wächst und nach wie vor zieht es wohlhabende Rentner und Pensionäre aus dem Großraum London nach Chichester. Sie schätzen das kulturelle Erbe der Stadt, die kurzen Wege im historischen Zentrum und die landschaftlichen Reize am Rande des „South Downs Nationalparks“. Viele suchen die Nähe zur Küste und die Freizeitmöglichkeiten im großen Naturhafen von Chichester.
Das weiß auch Craig Gershater, Bürgermeister a. D., zu schätzen. Als Teilzeit-Akademiker kam er 2008 aus Cambridge nach Sussex. Grüne Hügel, Wald, Küste und die kurze Entfernung nach London waren für ihn wichtige Kriterien, nach Chichester zu ziehen. Seit 2019 sitzt der gebürtige Amerikaner für die Liberalen im Stadtrat, zuletzt als Vorsitzender des Rates und Bürgermeister der Stadt. Er schätzt vor allem das kulturelle Erbe und wurde in den zurückliegenden Jahren zum leidenschaftlichen Gästeführer für Chichester und ganz Südengland. Neben aller Begeisterung für die Stadt und ihrer Geschichte, weiß er aber auch über soziale Probleme zu berichten, mit denen er als Bürgermeister konfrontiert war.
Die Obdachlosigkeit sei in den letzten Jahren zu einem ernsthaften Problem geworden, sagt Gershater, darunter viele Geringverdiener im Dienstleistungsbereich und ehemalige Armeeangehörige, die nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst nicht mehr den Weg ins zivile Leben zurückgefunden haben. Mit dem in Chichester begründeten Hilfsprojekt „Stonepillow“ (wörtlich übersetzt: „Kissen aus Stein“) versuchen Stadträte und Ehrenamtliche diesen Menschen zu helfen, Unterkünfte zu finden, und das Nötigste für sie zu organisieren.
Chichesters Altbürgermeister: West Street kein schöner Anblick für Besucher
Die ökonomische Krise im Zuge des Brexits, schwindende Kaufkraft, hohe Ladenmieten und der Onlinehandel haben es schwer gemacht für den Handel in der Fußgängerzone. Gefühlt gibt es dort mittlerweile mehr Kaffeehäuser und Bistros als Einzelhandelsgeschäfte, sagt Gershater. In der West Street, gegenüber der Kathedrale, sind an einer langen Häuserfront seit Jahren die Fenster mit Folien überklebt. „Kein schöner Anblick für die Besucher,“ meint der Bürgermeister a. D.
Das Gesundheitssystem wurde in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt. Eine Rekordanzahl von 7,6 Millionen Menschen in England wartet auf eine Behandlung von Fachärzten im staatlichen Gesundheitssystem. Termine bei Zahnärzten sind kaum zu bekommen.
Englands Kommunen sind in weiten Teilen unterfinanziert, die Infrastruktur ist marode. Gershater berichtet von einer Bürgerbeteiligung zum aktuellen Geschäftsführungsplan der Verwaltung in Chichester, bei der die Beseitigung von Schlaglöchern in den Straßen als wichtigstes Handlungsfeld benannt wird.
Das Wasser am "Chichester Harbour" ist sichtbar verschmutzt
Im Sommer treibt es bei gutem Wetter viele Bewohner der Stadt zum Baden an die Küste und zum Segeln aufs Wasser. Denn die weit verzweigte Bucht vor ihrer Haustür, „Chichester Harbour“ genannt, ist ideal für Wassersportaktivitäten. Die Ufer dieser Gegend mit der offiziellen Bezeichnung „außergewöhnliche Naturschönheit“ sind gesäumt von Jachthäfen. Allerdings ist das früher saubere Wasser mittlerweile sichtbar verschmutzt. Wasserwerke leiten immer wieder ungestraft ungeklärte Abwässer und Fäkalien in den Fluss Lavant und damit auch in den Hafen von Chichester ein.
Ende der 1980er Jahre hatte die konservative Thatcher-Regierung die Wasserwerke des Landes privatisiert. Seitdem, so sehen es viele Umweltschützer, geht die kurzfristige Profitsteigerung vor Langzeitinvestitionen in die Infrastruktur, mit stillem Einverständnis der jeweils Regierenden in London. An einzelnen Tagen werden von den Behörden Badeverbote an den Stränden vor Chichester verhängt. Muscheln, Austern und Krebse dürfen wegen der Schadstoffbelastung an manchen Orten nicht mehr verkauft werden.
Zu den Kritikern dieses dreisten Umweltfrevels gehören auch Jude und Keith Clouston. Keith ist Berufsmusiker, Jude erfahrene Architektin. 2021, nach ihrem Eintritt in den Ruhestand, haben sie ihr Haus in London verkauft und dafür ein kleines Häuschen im historischen Zentrum von Chichester erworben und schmuck hergerichtet. Beide lieben die kurzen Wege im Zentrum, die Natur rund um Chichester und sie schätzen das kulturelle Angebot der Stadt. Jude engagiert sich in der Flüchtlingshilfe, eine Herausforderung, die die Speyerer gut kennen. Die Verfahren für Flüchtlinge und Asylbewerber sind auch in England langwierig, qualifizierte Kräfte ohne englische Zertifikate finden nur schwer einen Weg in den Arbeitsmarkt.
Aus Afghanistan, Syrien und Nordafrika: Offener Treff mit Flüchtlingen in Chichester
Zweimal pro Woche geht Jude zu einem offenen Treff mit Flüchtlingen aus Afghanistan, Syrien und Nordafrika. Montags wird gemeinsam mit den Frauen gekocht. Sie erledigt die Einkäufe in der Stadt, besorgt die notwendigen Zutaten, und die Frauen bereiten Gerichte aus ihren Heimatländern zu, mit sehr schmackhaften Ergebnissen, wie sie berichtet. Keith engagiert sich in verschieden musikalischen Formationen und Projekten, darunter auch eine Gruppe von Morris-Tänzern, dem traditionellen englischen Folk-Tanz: Musiziert und getanzt wird bei diesem bunten Spektakel in der Gruppe mit weißen Taschentüchern oder Stöcken in der Hand sowie kleinen Glocken an den Füßen.
Überhaupt zählt die Kultur und das kulturelle Erbe von Chichester zu den wichtigsten Standortfaktoren für die Entwicklung der Stadt nach 1945. Das ungewöhnliche reichhaltige Kulturangebot lockt Besucher aus ganz Sussex und viele Touristen in die Stadt. Ein großes Festivaltheater für die ganze Region, die Kathedrale von Chichester mit ihren Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, das „Chichester International Filmfestival“, die „Pallant House Art Gallery“ und das „Weald & Dowland Living Museum“ sind kulturelle Leuchttürme, die nach wie vor große Anziehungskraft entfalten.
David Elliott, geboren in Chichester und als Kulturmanager für das „British Council“ viele Jahre im Ausland und in London tätig, ist wieder zurück in seiner Heimatstadt und kann sehr gut erläutern, wie diese Projekte entstanden sind. „Die Kathedrale ist seit 950 Jahren der Kristallisationspunkt einer kulturellen Entwicklung“, sagt er. Ein kunstsinniger Bischof, George Bell, und der den Künsten zugeneigte Dekan Walter Hussey haben in den 1940er und 1950er Jahren den Grundstein für eine renommierte Sammlung von modernen Kunstwerken gelegt, die heute in der Kathedrale und in der „Pallant House Art Gallery“ zu sehen sind. Das Festivaltheater und das „Chichester International Filmfestival“, begründet von engagierten Persönlichkeiten der Stadt, kamen in den 1960er und 1970er Jahren hinzu. Finanziert werden diese Vorzeigeprojekte durch eine dauerhafte Förderung von Distrikt und Stadt sowie das großzügige Mäzenatentum jener wohlhabenden Teile der Bürgerschaft, für die Chichester der verdiente Altersruhesitz ist.
In der Speyerer Partnerstadt wird auf einen Wechsel in der Downing Street gesetzt
Gefragt nach dem anstehenden Wechsel in der Politik des Landes und den möglichen Auswirkungen auf Chichester, setzen alle Gesprächspartner auf einen Regierungswechsel in der Londoner Downing Street. „Die Dinge können nur besser werden“, ist vielfach zu hören. Es wird Jahrzehnte dauern, um die Auswirkungen der bisherigen Politik der Tories zu korrigieren und die Weichen neu zu stellen, sagt Craig Gershater.
Hinzu kommt, dass finanzielle Mittel fehlen und Investitionen in die marode Infrastruktur nur nach und nach getätigt werden können. Für Chichester wünscht sich der umtriebige Bürgermeister a. D. den Bau eines Kongress- und Veranstaltungszentrums und eines Fünfsternehotels. Denn die Hotelkapazitäten im gehobenen Bereich sind nach wie vor knapp. Der Tourismus ist ausbaufähig und die Entwicklungschancen für Chichester sind gut. Aber nur ein frischer Wind aus London und die bessere Finanzausstattung der Kommune können helfen, die vorhandenen Potenziale der derzeit 32 000 Einwohner zählenden Stadt in West-Sussex noch besser auszuschöpfen.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/metropolregion_artikel,-speyer-so-ist-die-lage-in-der-speyerer-partnerstadt-chichester-vor-den-britischen-wahlen-_arid,2219231.html