Speyer. „Männer sterben bei uns nicht“, lautet der Titel des aktuellen Romans von Annika Reich. Sie sterben nicht etwa, weil es ihnen so gut ginge, sondern weil sie in der Welt des familiären Matriarchats, die Reich auf bestrickende Weise entwirft, nicht vorkommen. Ein Paradies? Mitnichten, wie die Schriftstellerin bei ihrer Lesung in Speyer deutlich macht.
Die gesellschaftliche Rolle von Frauen bewertet Annika Reich im Gespräch mit Moderatorin Christine Stuck durchaus ambivalent. In den patriarchalischen Strukturen, wie sie bürgerliche Gesellschaft ausgebildet habe, hätten sich Frauen eingerichtet und spielten ihre durchaus nicht nur untergeordnete Rolle.
Frieden in männerfreien Zonen? Mitnichten
Dass sich der Kampf der Geschlechter auch innergeschlechtlich fortsetzt, davon gibt der Roman Kunde. Mit der Großmutter im Zentrum, die die familiären Fäden mit dynastischer Autorität in der Hand hält, könnten Töchter, Mütter, Schwestern, Schwiegertöchter einander die Solidarität erweisen, die sie gesamtgesellschaftlich entbehren. In der männerfreien Zone müsste es sich friedlich leben lassen; doch die Machtkämpfe und Verstehenskonflikte setzen sich auch unter den Frauen selbst fort.
Das kann durchaus auch tödlich enden; im Roman von Annika Reich sind fortwährend Tote zu betrauern und Beerdigungen durchzustehen. Ein Roman, „der lange nachhallt“, wie Moderatorin Christine Stuck findet: „Die Frauen schaffen es, es sich schwer zu machen, auch ohne Männer.“ Die in Berlin lebende Schriftstellerin bestätigt diese Beobachtung in mehreren Passagen, die sie aus ihrem Roman vorträgt.
Icherzählerin Luisa erinnert sich an Szenen aus ihrer Kindheit. Ist die Tote aus dem See wirklich, wie das Mädchen glaubt, ihre von der Großmutter verstoßene Schwester Leni? Oder ist der Großmutter zu trauen, die sie von diesem Verdacht abbringen will? Inwieweit kann man sich vertrauen – von Frau zu Frau? Und welchen Wahrheitswert haben Erinnerungen? Welche Rolle spielt die Scham in alledem? Fragen, die Annika Reich in ihrem Roman aufwirft, die sie aber nicht eindeutig und schon gar nicht mit psychotherapeutischer Attitüde zu beantworten versucht. Die Leser selbst sind aufgefordert, sich diesen Fragen zu stellen.
Annika Reich nutzt ihre Intuition und erschafft damit Figuren und Szenen
Denn auch die Autorin selbst versteht sich nicht als souveräne Interpretin des Romangeschehens. Figuren und Szenen seien vielmehr Ergebnisse intuitiver Prozesse, erläutert sie im Gespräch. Mögliche biografische Anklänge werden nicht angesprochen. Manche literarischen Vorkommnisse scheinen ein Eigenleben zu führen und sich ihrer Erfinderin letzten Ende selbst zu entziehen. Warum die Protagonistin im Roman ein Brathuhn zerfleischt, nachdem die Großmutter gestorben ist, wird deshalb nicht näher erläutert – eine solche Übersprungshandlung mag als das Resultat einer außergewöhnlichen emotionalen Belastung gelten.
Die Schriftstellerin schließt ihre Lesung mit dem „heiligen 40. Kapitel“ ab. „Heilig“ deshalb, da es viereinhalb Seiten am Stück gewesen seien, die sie bewältigt habe, begründet Annika Reich. Im Normalfall schaffe sie täglich maximal eineinhalb Seiten. Ihre schriftstellerische Leidenschaft hatte die Autorin in den vergangenen Jahren teilen müssen mit Anforderungen, die sie als künstlerische Leiterin des Aktionsbündnisses „Wir machen das“ und „Weiter Schreiben“ zu erfüllen hat. Darin engagiert sich Annika Reich für Autorinnen und Autoren aus Kriegs- und Krisengebieten. Ihnen will sie Wege in den Literaturbetrieb hierzulande ebnen.
Die Lesung mit Annika Reich wurde initiiert vom Verein zur Förderung des Kulturdialogs Literatur/Musik. Zwischen den einzelnen Passagen spielte der aus Tunesien stammende und in Mannheim lebende Musiker Fadhel Boubaker auf der Oud, einer arabischen Laute. Er trug Stücke vor, die sich auf feinsinnige Weise zwischen arabischer Musik und dem Jazz bewegten.
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