Speyer. Wenn Kernkompetenz verlorengeht, gerät Identität ins Wanken. Was dem Sänger der Stimmverlust und dem Bäcker die Mehlstauballergie, ist der Pastorin die „Gottdemenz“. Unter dieser vom Bundesarbeitsministerium nicht anerkannten Berufskrankheit leidet Elke, die Protagonistin in Tamar Noorts Debütroman „Die Ewigkeit ist ein guter Ort“. Was der völlige Blackout in Gebets- und Glaubensfragen mit der rund 30-Jährigen, ihrem Seelen- und Liebesleben macht, stellte die Autorin am Samstagabend beim elften „Literatur & Genuss“-Abend des Kiwanis-Clubs Speyer im Alten Stadtsaal vor. Und löste damit bei allem Ernst der Lage und der Auseinandersetzung immer wieder Schmunzeln aus.
Die 1976 geborene, in den Niederlanden aufgewachsene Autorin lädt ihre Zuhörer ein auf eine Reise, auf der sie nicht nur den Werdegang der ihres Glaubens unvermittelt verlustig gegangenen Hauptfigur, sondern auch die Entstehung des Werks nachvollziehen können – die Romanentwicklung eines Entwicklungsromans. Die sei ebenso wenig selbstverständlich gewesen für die Journalistin, die sich bislang filmisch als Autorin für Wissenschaftsdokumentationen ausgedrückt hat, wie das „Vaterunser“ für Elke.
Preis als Ansporn und Druck
Statt „Themen, die nicht meine sind“ umzusetzen, folgte Tamar Noort dem Bedürfnis, zu behandeln, was sie selbst beschäftigt. Dass dabei die Kirche im Spiel sein würde, lag nahe für die Tochter eines Theologen und Schwester einer Theologin. Nachdrücklich verstärkt wurde die Umsetzung durch den Gewinn des Hamburger Literaturpreises 2019 für den Anfang des damals noch alles andere als kompletten Romans. So war Tamar Noort quasi gezwungen, die Suche Elkes nach einem Weg, wie sie mit der Leerstelle in ihrem Leben umgehen kann, fortzuschreiben.
Der führt zum Arzt, zum Therapeuten und auf Pellworm, die „kleine reizlose Schwester von Sylt“ (die die Autorin dennoch sehr schätzt, wie sie später betont) – ohne Erfolg. Also schickt Noort Elke nach Hause in Norddeutschland, „um zu lernen, was wirklich mit ihr los ist“, sie emotional zu ergründen. Dort ist der Vater Pastor und wünscht sich, dass seine Tochter die Gemeinde übernimmt.
Auf solche Gedanken kann sich die vom Glauben Abgefallene nicht einlassen. Den eigenwilligen Graupapagei „Gertrude“ der 94-jährigen Seniorin Röschen, die auf sie und ihren Bruder aufgepasst hat, als sie Kinder waren, und nun in ein Heim umzieht, nimmt sie zumindest widerwillig mit zurück in die Wohnung zu ihrem Freund Jan. Dass „Gertrude“ ihn offensichtlich nicht mag, ist nicht das Einzige, was bald zwischen den beiden steht.
Das eigene Leben umkreisen
Breiten Raum im Roman nimmt die Sprachlosigkeit ein, das Verschweigen von Gefühlen. Über den Bruder, der vor 15 Jahren im See ihrer Heimatstadt ertrunken ist, spricht Elke weder mit Jan noch mit den Eltern. „Sie umkreist ihr eigenes Leben“, beschreibt es die Autorin und leitet damit über zur Episode, in der die Pastorin im Wartestand den hünenhaften Lukas trifft, der zu einer Truppe waghalsiger Steilwandfahrer gehört und sie einlädt, auf seine Harley auf- und beim rasanten Reisegewerbe einzusteigen. Dort kommen die Ereignisse naturgemäß immer schneller ins Rollen.
Für Heiterkeit im Publikum sorgt Tamar Noort, als sie auf den Spezialitätenteller eingeht, der den Genuss-Aspekt der vor zwölf Jahren gestarteten Kiwanis-Reihe ausmacht. Im Familienchat habe sich die niederländische Verwandtschaft gefragt, was denn die ihrem Land zugeordneten Spezialitäten sein könnten: „Denkst du, es wird Pommes geben?“ Dass der Serviceclub, der mit der Veranstaltung sein Schulranzenprojekt mitfinanziert, stattdessen unter anderem auf Husarensalat gesetzt hat, löst bei der Autorin freudige Kindheitserinnerungen aus.
Aufs Kochen versteht sich auch Jan vortrefflich, und als er plötzlich Sandwich serviert, weiß Elke, wie schlecht es um ihre Beziehung steht. Nach Eskalationen auf mehreren Ebenen lässt sie sich schließlich auf die Krankheitsvertretung ihres Vaters ein – ohne dass die „Gottdemenz“ verschwunden gewesen wäre.
Außergewöhnlich viel Zeit nimmt sich Tamar Noort im Anschluss, um die Fragen ihrer Zuhörer zu beantworten. Wahrscheinlich fällt der Schlussapplaus nach der knapp 90-minütigen Lesung auch deshalb besonders lang aus. Der Antwort, dass dem Erstling ganz sicher ein weiteres Buch folgen werde, weil er viele Türen geöffnet habe, galt er sicher auch.
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