Rhein-Neckar. Cem K. ahnt, dass ihm kein sehr angenehmes Gespräch bevorstehen würde, als er sich nach einer Aufforderung der Justiz im Spätsommer 2016 auf den Weg zu jener Polizeistation in Istanbul macht, die er als unschuldiger Mann betritt und als Terrorist der Gülen-Bewegung in Handschellen wieder verlässt.
Jedenfalls hatte der Medienprofi, der er jahrelang war, sein Smartphone vorsichtshalber zu Hause gelassen, da er schon vermutete, dass der lange Arm Recep Tayyip Erdogans eventuell danach greifen würde. Was der türkische Präsident und sein autoritärer Machtapparat dem Mann aber tatsächlich genommen haben, das war in den folgenden sechs Jahren dessen Freiheit und Menschenwürde.
Wilde Spekulationen: War es tatsächlich ein Putschversuch?
Wie der Journalist, so leiden noch immer Tausende Menschen in der Türkei unter den Folgen des 15. August 2016. Bis heute gibt es wilde Spekulationen darüber, ob es sich in dieser dramatischen Nacht tatsächlich um einen Putschversuch gehandelt hat. Oder war es doch nur eine große Inszenierung von Erdogan selbst, um im Nachhinein eine Rechtfertigung zu haben für den noch stärkeren Zuschnitt des gesamten Regierungsapparates auf seine Person?
Oppositionelle in der Türkei sprechen jedenfalls vom „sogenannten“ Putschversuch. Würde in diesem Artikel hier der korrekte Name K.s stehen, dann hätte der einstige Journalist vermutlich sehr bald ein Problem, insofern haben wir ihn geändert. Der lange Arm Erdogans - das zeigen Erfahrungen - reicht mitunter nach Deutschland.
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Tritte und Schläge ins Gesicht sowie in den Genitalbereich
Inzwischen hat Cem K. wieder einige Kilo zugenommen. Er lebt in einer Stadt in der Metropolregion. Wo, soll geheim bleiben. Dass es in ihm brodelt, wenn er in seiner Muttersprache von den traumatischen Erfahrungen nach seiner Verhaftung spricht, ist nicht zu übersehen. Gestenreich berichtet er von dem Sack, dem man ihm über seinen Kopf gezogen habe.
Er durchleidet erneut die Tritte und Schläge ins Gesicht sowie in den Genitalbereich. Er erinnert sich an die Stunden, in denen er regungslos mit dem Gesicht zur Wand habe stehen müssen. Und er erzählt von der kleinen Kammer, in der er zusammengepfercht mit 14 weiteren Personen die Nächte auf dem blanken Boden verbringen sollte. Der Sauerstoff in dem Raum sei knapp gewesen, so dass er die Nase regelmäßig zwischen den Gitterstäben durch ein kleines Sichtfenster der Tür habe stecken müssen, um nicht in Atemnot zu geraten.
Wenig Wasser und zwei Scheiben Brot - das sei die einzige Nahrung gewesen. Bei Transporten in verschiedene, immer wechselnde, Haftanstalten habe er Massen von blutenden Menschen auf dem Boden sitzen sehen. „Ich war schockiert“, sagt K.
Can Dündar prominentes Beispiel
Wie es soweit kommen konnte? K. arbeitete nach eigenen Angaben zunächst für eine große Zeitung und später für einen staatlichen Rundfunk- und Fernsehsender. Als es im Jahr 2013 als Resultat aus langjährigen Ermittlungen wegen Korruptionsverdacht zu Festnahmen im Umfeld von Erdogans Regierungspartei AKP kam, folgte die Reaktion prompt.
Erdogan sah seine Macht in Gefahr. Sanktionen richteten sich gegen die Justiz - und auch gegen die Medien. Das prominenteste Beispiel ist der heute in Berlin lebende Journalist Can Dündar, der 2016 der Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen für schuldig befunden wurde. Er floh nach Deutschland und entgeht seither dem langen Arm Erdogans. Auch K. traf die Säuberungsaktion. Als Oppositioneller musste er seinen Posten in der Redaktion räumen und fortan andere Arbeiten verrichten. „Wir haben uns gewehrt“, blickt er zurück. Die nächste Eskalationsstufe war 2016 erreicht.
Dutzende Medien geschlossen
Tausende Justizbeschäftigte und Journalisten seien aus ihren Positionen gedrängt und in Gefängnisse gesteckt worden. Erdogan habe bis dahin Dutzende unabhängige Medien vereinnahmt, sechs Nachrichtenagenturen aufgelöst, 30 Verlage geschlossen. Fernsehen und Rundfunk seien bis auf wenige pseudo-oppositionelle Medien unter staatlicher Kontrolle. Faktisch sei eine Gewaltenteilung danach kaum mehr existent gewesen. Hinter allem stecke sein langjähriger Feind und anfänglicher Unterstützer Fetullah Gülen, der aus den USA die Strippen ziehe, so das Narrativ, das der türkische Präsident seit 2013 verbreitet hat.
Flucht nach Deutschland zu Frau und Kindern
Tatsächlich ergaben sich Hinweise, dass das in Teilen gar nicht falsch ist. K. sagt aber, dass Erdogan in einem Atemzug gleich alle Andersdenkenden zu Gülen-Anhängern erklärt habe. Wegen Landesverrats und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung sei ihm ein Prozess gemacht worden, der quasi ohne Anhörung seiner Person stattgefunden habe.
Wegen „guter Führung“ wurde K. im September 2022 aus der Haft entlassen. Trotz der Auflagen, sich jeden Tag zu melden, flüchtete er wenige Wochen später nach Deutschland, wo seine Frau und die beiden Kinder zuvor schon Asyl beantragt hatten. Auch gegen seine Frau liege inzwischen ein Haftbefehl vor. Als Journalist ist ihm daran gelegen, auf die Situation in seiner Heimat aufmerksam zu machen. Dass in seinem eigenen Land so etwas passieren könne, habe er vor 2013 nie für möglich gehalten.
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