Kunst

Warum eine junge Sinsheimerin 114.000 Babyschnuller sammelt

Die 32-jährige Nessi Nezilla sucht Unterstützer für ein Kunstwerk mit 45 Kreuzen aus Glas. Auffüllen will sie die hohlen Gefäße mit Schnullis. Es geht um sexuellen Missbrauch in der Katholischen Kirche

Von 
Stephan Alfter
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Die Sinsheimer Künstlerin Nessi Nezilla betreibt großen Aufwand, um 45 Kreuze aus Glas mit Schnullern aufzufüllen. © Stephan Alfter/fotoswiss.com/giancarlo cattaneo

Sinsheim. Wie setzt man mit einem Kunstwerk ein Zeichen gegen sexuellen Missbrauch? Und zwar ohne, dass es plump oder plakativ wirkt? Schwierig. 114.000 Babyschnuller will die Sinsheimer Künstlerin Nessi Nezilla sammeln, um darauf hinzuweisen, wie groß der Schatten ist, der wie Blei auf der Katholischen Kirche liegt. 114.000 Minderjährige - das haben Wissenschaftler an der Universität in Ulm als Dunkelziffer hochgerechnet - könnten seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland Missbrauchserfahrungen im Kontext der katholischen Kirche gemacht haben.

Ausgangspunkt der Hochrechnungen war die sogenannte MHG-Studie, die von Harald Dreßing am Mannheimer Zentralinstitut für Psychische Gesundheit koordiniert wurde. Nach der Veröffentlichung im Jahr 2018 gingen Schockwellen durch die Bischöflichen Ordinariate in Deutschland. Missbrauchsopfer meldeten sich. Eine Folge ist eine bisher nicht gekannte Austrittsbewegung von Katholiken.

So kann man unterstützen

  • Nessi Nezilla sucht gebrauchte, gefundene, ausrangierte oder auch neue Schnuller. Diese nimmt sie per Brief oder Paket entgegen. Adresse: Pakete bitte an: Nessi Nezilla, Postnr.1062404692, Packstation 168, 74889 Sinsheim. Briefe an: Nezilla, Postfach 1216,74872 Sinsheim
  • Die Homepage kunstgegenmissbrauch.de geht in den kommenden Tagen online
  • In den letzten Wochen hat die Künstlerin erst 954 Schnuller gesammelt. Würde die Sammlung dieses Tempo beibehalten, gingen Jahre bis zu einer Fertigstellung ins Land

Nessi Nezilla ist als Kunstschaffende noch nicht sehr oft in Erscheinung getreten. Auch wenn eine Internet-Zeitung in Sinsheim sie schon als „international anerkannte Künstlerin“ führt. Schon gar nicht stand ihr Name in irgendeinem Zusammenhang mit fundierter Kirchenkritik. Aber: In der Liste ihrer bisherigen Ausstellungsorte taucht beispielsweise die New Yorker Galerie Van der Plas an der Lower Eastside auf. Beim Metropolink-Festival für urbane Kunst in Heidelberg war sie zuletzt mit ihren „Bullet-Ants“ vertreten - Ameisen, deren Körper aus Patronen bestehen. In St. Moritz präsentierte sie im September 2022 eine sechs Meter hohe Origami-Arbeit mit dem Titel Paperbomb - als Mahnmal für den Frieden.

Nächtliche Guerilla-Aktion?

Ihr Bekanntheitsgrad könnte sich ändern, wenn sie ihren noch nicht ausgereiften Plan umsetzt: Die 32-Jährige möchte in den kommenden Monaten 45 baugleiche Kreuze aus Glas herstellen und den innenliegenden Hohlraum mit Babyschnullern auffüllen. Eben jene 114.000 Schnuller, von denen sie bisher erst einige Hundert zusammen hat. Dass es eine Geduldsarbeit mit viel Klinkenputzen ist, dessen ist sie sich bewusst.

Eine Bombe aus Papier – gelandet in St. Moritz: ein Werk von Nessi Nezilla. © fotoswiss.com/cattaneo

Die 45 Kreuze könnten dann in einer nächtlichen Guerilla-Aktion an 45 Orten in Deutschland gleichzeitig aufgestellt werden - etwa auf der Kölner Domplatte, vor dem Speyerer Kaiser- und Mariendom oder vor dem Berliner Canisius-Kolleg. In Bistümern, von denen man weiß, dass hier besonders viele Fälle sexuellen Missbrauchs aufgetreten sind. Zumindest medial wäre das Echo am folgenden Morgen vermutlich einigermaßen groß.

Künstlerin besitzt Steinbruch

Aber: Ist dieser Protests nicht zu effekthascherisch? Und ist diese künstlerische Form nicht doch auch irgendwie populistisch? Fragen, mit denen sich die junge Frau auseinandersetzt, die sie aber verneint. Letztlich will sie eines besonders: „Ich möchte den Opfern von Missbrauch eine Stimme geben“, sagt sie. Dadurch, dass sich viele Menschen per Schnullerspende beteiligen könnten, sei es kein Kunstwerk, das sie alleine schaffe, sondern ein Stück, zu dem viele etwas beitragen könnten. Ihr kreatives Zentrum hat sie neben einem Steinbruch eingerichtet, der ihr gehört. Hier, einige Hundert Meter hinter der Hoffenheim-Arena und den Sinsheimer Badewelten, liegt ein Refugium, das nur schwer zu finden ist. Mit dem Verkauf der Steine finanziert sie sich selbst, denn von ihrer Kunst kann sie bisher nicht leben.

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In einer großen Halle, in der Ex-Motörhead-Sänger Lemmy Kilmister neben anderen Größen des Metals von einem Plakat herunterschaut, hat Nessi Nezilla (sie möchte nur mit ihrem Künstlernamen genannt werden) einen Prototyp für die Kreuze gebaut - zunächst aus Holz. Etwa 1,20 Hoch, vielleicht 50 Zentimeter breit.

Aus der Kirche ausgetreten

Sie selbst ist kein Mitglied der Katholischen Kirche mehr. Die dort gelebten Machtstrukturen empfindet sie als unangenehm. Fast resignierend stellt sie fest, dass das Handeln der Täter fast nie eine Konsequenz hatte. Sie sieht sich in einer Interessengemeinschaft mit „Eckiger Tisch“ e.V. - ein gemeinnütziger Verein, der die Interessen von Betroffenen sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen speziell im Kontext der Katholischen Kirche vertritt. Zu einer wirklichen Kooperation ist es trotz einiger Kontaktversuche bisher aber nicht gekommen. Dabei will Nessi Nezilla im Augenblick nur eines - nämlich so viele Babyschnuller wie möglich.

Redaktion Reporter in der Metropolregion Rhein-Neckar