Rhein-Neckar. Ungefähr einmal pro Woche macht sich Lukas auf den Weg. Dann verlässt der Ingenieur, der er bis eben noch war, frisch geduscht seinen Heimatort und taucht mit einer fremden Frau in eine andere Welt ein. Sie wird ihn später dafür bezahlen, dass er ihr typischerweise in einem Hotel in der Region einige berührende Stunden und eventuell auch mehrere Orgasmen beschert. Häufig hat er sich zuvor tagelang per Mail mit seiner Kundin ausgetauscht. Er hat im optimalen Fall herausgefunden, dass sich die Wünsche der Dame mit dem decken, was er ihr geben kann. Hätte sie in den vorangegangenen Gesprächen nur plump nach seiner Penislänge gefragt, wäre er wahrscheinlich gar nicht losgefahren. Wenn sich aber eine gute Kommunikation einstellt und die „Vibrations“ stimmen, dann kommt es zu einem Treffen, das nicht selten mit einem kleinen gemeinsamen Spaziergang in der Natur beginnt.
Viele von Lukas’ meist 30- bis 50-jährigen Kundinnen leben im Großraum Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg. In den häufigsten Fällen hat der 42-jährige, der im Alltag als Entwicklungsingenieur bei einem mittelständischen Unternehmen arbeitet, Sex mit den Frauen. Je nach deren Wunsch und Stimmung sei das mal stürmisch, mal kontemplativ, aber immer so, dass sie sich sicher, geborgen und wertgeschätzt fühlten. Das sei ihm wichtig, betont er. Rein, raus, Mickey Mouse - das ist nicht Lukas’ Ding. „Bei den Frauen verändert sich gerade etwas“, hat Lukas, der im gepflegten weißen Hemd zum Gespräch erschienen ist, festgestellt. Doch dazu später mehr.
450 Euro für zwei Stunden Liebe, Sex und Zärtlichkeit
Mindestens zwei Stunden dauert die „Sweet Time“, wie man sie auf der Plattform www.callboyz.net buchen kann. Neben Lukas sind dort Dutzende weitere Männer zu finden, aber von seiner Sorte gibt es nicht allzu viele im Südwesten der Republik. Der 42-Jährige berichtet, dass er zu Beginn seiner Tätigkeit ein Gespräch mit den Betreibern der bundesweiten Plattform gehabt habe. Beide seien selbst als „Boys“ (so heißt es im Jargon) unterwegs gewesen und hätten ein Augenmerk darauf, dass die Person, die sie „bewerben“, auch charakterlich zu ihren Werten passten.
450 Euro nimmt Lukas für die „Sweet Time“, also die Doppelstunde Liebe, Sex und Zärtlichkeit. Jede weitere Stunde kostet 150 Euro. Er bleibt nicht über Nacht, und Geschlechtsverkehr findet nur mit Kondom statt. Mehr als sechs Stunden mit seinen Kundinnen zu verbringen oder gar mit ihnen in den Urlaub zu fahren, wie es andere Callboys durchaus anböten, komme für ihn nicht in Frage. Wer „nur“ einen Mann zum Reden oder als Begleitung möchte, optiert für die „Social Time“, die günstiger ist als das 450-Euro-Paket. „Die Kundin bekommt nicht nur meinen Körper, sondern auch meinen Geist und meine Persönlichkeit“, sagt Lukas in sehr gekonntem Marketingsprech.
Für Lukas steht nicht der Sex, sondern die persönliche Verbindung zu einer Kundin im Vordergrund.
Wer bisher hinter Callboys tendenziell muskelbepackte Sexmaschinen vermutet hat, die rhetorisch einmal durch die Volkshochschule gedreht wurden, wird sein Bild spätestens jetzt korrigieren müssen. Auch wenn Lukas mit seinem Fünf-Tage-Bart als Typ sehr attraktiv wirkt, so ist er kein klassischer Schönling. Er überzeugt eher über die Art, wie er sich ausdrückt. Die Stimmfarbe und die Zugeneigtheit, die ihm innewohnt, mag bei Frauen wie ein zusätzliches Aphrodisiakum wirken. Man vertraut ihm schnell, und sein badisches Idiom macht ihn noch authentischer. Eine Freundin habe ihm mal gesagt: „Lukas, du hast etwas, was andere nicht haben.“
Ein Hauch von „Fifty Shades of Grey“ ist nicht ganz ungewollt
Um die eigene Lust am Sex sei es ihm viel weniger gegangen, als er sich entschieden hat, als Callboy zu arbeiten. „Warum mich das begeistert, ist zum Teil sicherlich mit einem altruistischen Ansatz zu erklären. Es ist für mich der beste Nebenjob der Welt“, sagt er. Mehr als ein Jahr habe er sich zuvor mit dem Gedanken beschäftigt und sich anfangs gar nicht in dieser Branche gesehen. Andere Boys habe er als attraktiver angesehen.
Interessant ist, dass Lukas sich selbst unter den Sexarbeitern einordnet, dann aber doch eine deutliche Grenze zieht zu Prostituierten, die mehrfach am Tag zu unterirdischen Preisen ihren Körper anbieten, um zu überleben. Bei ihm stehe nicht der Sex, sondern die persönliche Verbindung zu einer Kundin im Vordergrund. Für die Fähigkeit, sich da hineinzufühlen, verlange er aber auch höhere Preise. So sei es auch bei den Frauen, die Escort-Service anböten. Trotz der Offenheit, mit der Lukas über Sexualität und den Job spricht, hält er sich zu seinem Privatleben bedeckt.
Ob er in einer Beziehung lebt oder nicht, sollen seine Kundinnen nicht erfahren. Auch während der Dates bleibt er gewissermaßen ein Mann ohne Eigenschaften. Ein Hauch von „Fifty Shades of Grey“ - ist das der Reiz? Wenn die Frau ihm aus ihrem Privatleben erzählen wolle, dürfe sie das tun, antwortet er. Sein Privatleben - ein ungeschriebenes Gesetz - bleibt im Hintergrund. Nur, dass er in seiner Freizeit gerne mit seinem Hund spazieren geht, erfahren Interessentinnen auf der Callboyz-Plattform im Netz.
Über das Privatleben des Callboys erfährt die Kundin nur sehr wenig
Keine Unterschiede macht Lukas in der Frage des Alters und des Erscheinungsbildes. „Viel wichtiger ist die Sympathie“, sagt er. Typischerweise sind die Frauen höchstens 20 Jahre jünger oder älter als der 42-Jährige. Zu dünn oder zu dick gibt es für ihn nicht. „Ich habe verstanden, wie eine Frau abgeholt werden möchte“, sagt er und verweist auf die Kenntnisse, die er sich in der Tantra-Technik erworben hat. Zwischen Achtsamkeit und Dominanz sei für ihn das Thema Präsenz wichtig. „Es kommt darauf an, wann das eine und wann das andere gefragt ist“, hat er gelernt. Eine weitere Lehre: Viele Männer erwarten im Bett Gegenleistungen für jede Berührung. Diese Erwartungshaltung sei für Frauen oft ein „Lustkiller“. Dass es zwischen Mann und Frau die sogenannte Orgasmuslücke gibt, wundert Lukas nicht. Viele Männer hätten bis heute leider noch nicht verstanden, wie erfüllender Sex für eine Frau aussieht.
Die tiefgreifende Veränderung dieser Jahre besteht für ihn darin, dass Frauen sich plötzlich trauten, sich das zu nehmen, was sie wollen. „30-Jährige bringen das heute von sich aus mit, während eine 50-Jährige sagt, dass es in ihrem Umfeld noch nicht normal ist, sich mit einem Callboy zu treffen“. Aber: Auch die 50-Jährige erzähle es inzwischen ihren Freundinnen, und das Echo sei vielfach unterstützend.
Lukas nimmt wahr, dass es bei seinen Treffen meist nicht um eine dringende sexuelle Bedürftigkeit gehe, sondern eher um „Self-Care“. Auch dass es nur reiche Geschäftsfrauen sind, die sich ihn leisten, verweist Lukas ins Reich der Fabel. Unter seinen Kundinnen seien auch Zahnarzthelferinnen, die vielleicht zwei oder drei Monate sparen für den Abend. Beobachtet hat der 42-Jährige, dass alle diese Frauen mitunter auch unabhängig von einem Partner leben und Sex haben wollen - oder für eine Beziehung gar keine Zeit haben. Eine alleinerziehende Mutter mit drei Kindern wolle sich vielleicht gar nicht auf einen neuen Typen einlassen, der sie zu all ihren anderen Problemen später eventuell noch stalkt. Der Callboy also als Problemlöser in jeder Lebenslage? Lukas gibt an, seine Nische gefunden zu haben. „Es gibt viel zu wenige von uns.“ Davon ist er überzeugt.
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