Speyer. Der große Paukenschlag für das Bistum Speyer war der Fall Rudolf Motzenbäcker – jener Mann, der zwischen 1963 und 1975 mehrere Schutzbedürftige sexuell missbraucht haben soll. Der 1998 verstorbene Priester war von 1959 bis 1968 Generalvikar und von 1969 bis 1995 Offizial, also oberster Jurist im Bistum. Drei Betroffene haben ihn unabhängig voneinander als Täter benannt. Daraufhin ging Bischof Wiesemann im Dezember 2020 an die Öffentlichkeit.
Viereinhalb Jahre danach liegt nun eine erste Teilstudie zu sexuellem Missbrauch in seinem Bistum vor. Angesichts der Ergebnisse hat sich Bischof Wiesemann am Freitag mit Nachdruck für eine schonungslose Aufarbeitung der Verbrechen ausgesprochen. „Einen Schlussstrich unter das Thema Missbrauch kann und darf es nicht geben“, sagte Wiesemann in der Domstadt angesichts der erschütternden Ergebnisse der Studie. „Ich kann nur aus ganzem Herzen um Vergebung bitten.“ Nichts könne die schrecklichen Taten ungeschehen machen. Zudem forderte der Bischof einen umfassenden Kulturwandel in der katholischen Kirche.
Der Bischof räumte ein, das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs in der Kirche lange nicht erfasst zu haben. „Dafür schäme ich mich persönlich.“ Er habe zunächst an Einzelfälle geglaubt. Die strukturelle Beteiligung der Kirche an den Taten habe er nicht wahrgenommen. Er stelle sich seiner Verantwortung – für das Leid, das Menschen durch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen angetan worden sei, aber auch für seine ungenügende Zuwendung zu Betroffenen.
Generalvikar Markus Magin: tief erschüttert und beschämt
Generalvikar Markus Magin kündigte vor dem Hintergrund des sexuellen Missbrauchs ein Mahnmal an. Das Leid der Betroffenen habe ihn tief erschüttert und beschämt. „Deshalb ist es mir ein persönliches Anliegen, mich der Bitte des Bischofs um Entschuldigung an alle Betroffenen ausdrücklich anzuschließen.“ Zugleich schilderte Magin Maßnahmen, die nicht nur in jüngster Zeit erarbeitet worden seien. Zum Beispiel habe man im Herbst des vergangenen Jahres als erstes Bistum überhaupt verbindliche Leitlinien für eine Gedenkkultur im Bistum Speyer erarbeitet. Sie tragen den Titel „Hinsehen, Erinnern, Handeln“. Diese Leitlinien rücken zuerst das Gedenken an das Leid der Betroffenen in den Mittelpunkt. Sie bearbeiten dann aber auch die Frage, wie wir mit dem Gedenken an Beschuldigte beziehungsweise an Täter umgehen. Magin verwies zudem auf die erarbeiteten Schutzkonzepte, die Risiken von Missbrauch vor Ort in den Pfarreien erkennbar machen sollen.
Die nun veröffentlichte Studie, die in Gänze in zwei Jahren vorliegen soll, war am Donnerstag von der Mannheimer Historikerin Sylvia Schraut vorgestellt worden. In dem ersten Teil wird betont, dass kirchliche Strukturen sexuellen Missbrauch im Bistum Speyer maßgeblich begünstigt haben. Derzeit geht das Bistum bei den Beschuldigten von 109 Geistlichen sowie 41 Nichtklerikerinnen und Nichtklerikern aus. Rund die Hälfte der Taten fand demnach in den 1950er und 1960er Jahren statt – oft in kirchlichen Heimen für Kinder und Jugendliche, auch durch Nonnen oder Erzieherinnen. Etwa die Hälfte der Fälle wurde erst nach dem Jahr 2000 bekannt. Bis heute wurden rund 3,6 Millionen Euro inklusive Therapiekosten an 96 Betroffene gezahlt.
Bischof Wiesemann sagte, beim Lesen der Studie sei er immer wieder ins Stocken geraten. Vor allem, weil auch kirchliche Heime sogenannte Hotspots der Verbrechen gewesen seien, in denen Menschen „himmelschreiendes Unrecht und Leid“ angetan worden seien – und wie wenig ihnen geglaubt worden sei. Dies sei eine schreckliche Wirklichkeit, die nicht ungeschehen gemacht werden könne.
Der Betroffenenbeirat im Bistum erwartet nach Angaben seines Vorsitzenden Bernd Held „das Zerschlagen der Strukturen“, die Missbrauch ermöglicht haben. Held forderte weitere Betroffene auf, sich zu melden. „Es gibt viele, die immer noch denken, sie seien ein Einzelfall. Das ist spätestens mit der Studie eindeutig widerlegt“, betonte der Saarländer. In der 473-seitigen Studie heißt es, fehlende Machtkontrolle und autoritäre Amtsausübung hätten jahrzehntelang Missbrauch und sexualisierte Gewalt durch Priester, Ordensleute und kirchliche Mitarbeiter im Bistum ermöglicht. „Die kirchlichen Strukturen haben die Straftaten maßgeblich begünstigt“, so die unabhängige Untersuchung.
Sexualmoral der Kirche eine entscheidende Komponente
„Mitverantwortlich für das Verschweigen von Missbrauch und die langjährige Verhinderung von Prävention dürfte zudem die rigide Sexualmoral der katholischen Kirche sein“, sagte die Historikerin und Studienleiterin Sylvia Schraut.
Die Untersuchung hat Personalakten und weitere Aufzeichnungen des Bistums für die Zeit von 1946 bis in die Gegenwart ausgewertet und kommt so zu einer Gesamtzahl von 109 Priestern und 41 Nichtklerikern, die des Missbrauchs oder sexueller Übergriffe beschuldigt wurden.
Als einen „Hotspot“ für Übergriffe bezeichnet die Studie kirchliche Heime für Kinder und Jugendliche. Dort hätten Kleriker und andere Berufsgruppen jahrelang ein „Betriebsklima“ vorgefunden, das sexuelle Übergriffe erleichtert habe, heißt es in der Studie.
Die Universität Mannheim kündigte an, innerhalb des auf vier Jahre angelegten Forschungsprojekts 2027 einen zweiten Bericht zu veröffentlichen. Darin soll auch der Fall Motzenbäcker nochmal näher beleuchtet werden, kündigte Schraut am Freitag auf Anfrage an. (mit dpa)
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Wertvolle Studie aus Mannheim