Katholische Kirche

Nazi-Erziehung begünstigte sexuellen Missbrauch im Bistum Speyer

Gewalt war ein strukturelles Problem in katholischen Kinderheimen und Schulen. Eine Studie aus Mannheim zeigt jetzt Hintergründe und Konstellationen, die Missbrauch ermöglichten.

Von 
Stephan Alfter
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Im Schatten des Europäischen Kaiserdoms zu Speyer wurde in den Nachkriegsjahren vieles vertuscht, was mit sexuellem Missbrauch in Zusammenhang stand. © Julia Steinbrecht/KNA

Speyer. Welchen Qualen schutzbedürftige Kinder in Einrichtungen der katholischen Kirche vor allem in den frühen Nachkriegsjahren mitunter ausgesetzt waren, ist oft berichtet worden. Die von dieser Redaktion mehrfach beschriebenen Zustände im Speyerer Kinderheim Engelsgasse der 60er bis 80er Jahre stehen dafür exemplarisch. Als der noch amtierende Bischof Karl-Heinz Wiesemann im Dezember 2020 unter dem Druck der Öffentlichkeit mit dem früheren Generalvikar Rudolf Motzenbäcker erstmals den Namen eines Täters nennt, setzt das einen Prozess in Gang. Ein Resultat dieses Prozesses ist eine Teilstudie, die Professorin Sylvia Schraut am Donnerstag gemeinsam mit anderen Wissenschaftlerinnen an der Uni Mannheim präsentierte.

Die Teilstudie, die den Zeitraum seit 1946 umfasst, offenbart ein erschütterndes Bild systemischen Versagens. Mehr als 100 Geistliche – darunter Priester, Diakone und Ordensleute – werden beschuldigt, Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht zu haben – oft über Jahre hinweg, oft unter dem Schutz der Institution Kirche. Die Leitung des Bistums, so die Forscherinnen, sah notorisch weg. Hinzu kommen 41 beschuldigte kirchliche Mitarbeitende, darunter auch Ehrenamtliche und Ordensschwestern. Die Taten richteten sich überwiegend gegen männliche Minderjährige, viele davon Ministranten. Besonders auffällig: Viele der Täter und Täterinnen waren in der Heimaufsicht tätig oder hatten engen Kontakt zu Jugendlichen in Seelsorge, Schule und Freizeit.

Vor allem Geistliche, die zwischen 1900 und 1939 geboren wurden, tauchen besonders häufig unter den Beschuldigten auf

Die Wissenschaftlerinnen sprechen von einer Überrepräsentation bestimmter Priestergenerationen. Vor allem Geistliche, die zwischen 1900 und 1939 geboren wurden, tauchen besonders häufig unter den Beschuldigten auf. Viele von ihnen gehörten demnach der sogenannten Kriegs- oder Kriegskindergeneration an, sozialisiert unter den autoritären Strukturen von Hitlerjugend oder NS-Erziehungsheimen. An der Front erlebten sie ein Menschenbild, das von Gehorsam und Gewalt geprägt war. Diese Muster, so die Analyse, verschwanden nicht mit Kriegsende, sondern wirkten – zum Teil unbewusst – in das priesterliche Selbstverständnis hinein.

Die Studie zeigt deutlich: Wer in einer Welt aufwächst, in der Züchtigung, Disziplin und Machtausübung als pädagogische Mittel galten, der ist besonders anfällig dafür, autoritäre Strukturen später nicht zu hinterfragen. In einer hierarchisch verfassten Kirche ohne wirksame Kontrolle bot sich dafür ein fruchtbarer Boden.

Systematisches Versagen auf Leitungsebene

Die Autorinnen richten den Fokus vor allem auf die Institution Kirche selbst und befassen sich zum jetzigen Zeitpunkt weniger mit Fallanalysen. Bis mindestens bis ins Jahr 2010 reagiert das Bistum auf Missbrauchsvorwürfe häufig mit Wegschauen, Aktenvernichtung oder der bloßen Versetzung der Täter. Hilfe für Betroffene? Fehlanzeige?

Der damalige Bischof Anton Schlembach (Amtszeit 1983–2007) wird im Zusammenhang mit zehn dokumentierten Missbrauchsmeldungen genannt. Konkrete persönliche Vorwürfe erhebt die Studie nicht – doch sie macht deutlich: Die Bistumsleitung war informiert und handelte nicht konsequent. Die Einschätzung der Autorinnen ist deutlich: Je enger ein beschuldigter Geistlicher mit der Bistumsleitung verbunden war, desto eher wurde ihm Schutz gewährt – auch durch das Entfernen von Akteninhalten.

Sylvia Schraut präsentiert die erste Teilstudie zu sexuellem Missbrauch im Bistum Speyer seit 1946. Der zweite Teil ist für das Jahr 2027 angekündigt. © Sylvia Schraut/Uni Mannheim

Beweise für gezielte Aktenvernichtung lassen sich schwerlich eindeutig führen – doch die Lücken im Archiv, unvollständige Personalakten und widersprüchliche Verwaltungsvermerke sind sichtbar. Besonders problematisch: Im Bistum Speyer wurde, anders als in anderen Diözesen, nie ein kirchliches „Geheimarchiv“ für Missbrauchsfälle nach den Vorgaben des Kirchenrechts aufgebaut. „Es gibt hier kein Geheimarchiv“, sagte der inzwischen aus der römisch-katholischen Kirche ausgetretene frühere Generalvikar Andreas Sturm in einem Interview mit dem „Mannheimer Morgen“. Wo Unterlagen existieren müssten, fehlen sie. Und wo etwas übermittelt wurde – etwa an die vatikanische Glaubenskongregation – blieben in Speyer nicht einmal Kopien zurück. Erst seit etwa 2010 sei im Bistum eine systematische Aktenführung erkennbar.

Heime als Tatorte: Isolation und Schweigen

Besondere Aufmerksamkeit bekommen in der Studie die kirchlichen Internate und Heime, die sich in den 1950er bis 1970er Jahren als Hotspots sexueller Gewalt erweisen. Einrichtungen wie das Internat Johanneum in Homburg oder das Kinderheim Engelsgasse in Speyer standen unter kirchlicher Aufsicht, oft geleitet von Ordensangehörigen. Die Studie dokumentiert eine „Kultur des Schweigens“, strenge Hierarchien und das systematische Übergehen von Hinweisen.

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Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung betrifft die Struktur der kirchlichen Verwaltung. Bis weit in die 2000er Jahre hinein sei im Bistum Speyer kein funktionierendes System zur Dokumentation und Aufarbeitung von Missbrauchsfällen erkennbar gewesen. Erst ab 2016 begannen psychologisch geschulte Fachleute, sich um die Anliegen der Betroffenen zu kümmern.

Die Studie würdigt die Einrichtung der Unabhängigen Aufarbeitungskommission (UAK) und des Betroffenenbeirats im Jahr 2021 als wichtigen Schritt hin zu mehr Transparenz und Beteiligung. Immer klarer wird: Sexueller Missbrauch im Bistum Speyer war kein Randphänomen, sondern eingebettet in kirchliche Strukturen und begünstigt durch fehlende Kontrolle, autoritäre Machtverhältnisse und kulturelle Tabus.

Bernd Held, Vertreter des Betroffenenbeirats, sagt zur Studie: „Es geht darum, klarzumachen, bis in welche Kreise das ging. Und das über Jahrzehnte. Kein normaler Mensch kann sich das ausdenken“. Missbrauch nicht zu ahnden, sei ein weiterer Missbrauch. „Ein Erfolg der Studie wäre, wenn sich Strukturen zum Positiven verändern würden. Eine Enttäuschung wäre, wenn die Studie bloß wie ein Geschichtsbuch gelesen würde“, sagt er. Die zweite Teilstudie, die für 2027 angekündigt ist, wird konkrete Fallanalysen liefern. Erst dann, so die Hoffnung, werde sichtbar, wie tief das Systemversagen wirklich reichte – und was daraus für die Zukunft zu lernen ist.

Redaktion Reporter in der Metropolregion Rhein-Neckar

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