Rhein-Neckar. Wie reagieren die Gläubigen im Rhein-Neckar-Kreis auf die Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens der Erzdiözese Freiburg im April? Das Jahr 2022 war für beide christlichen Kirchen ein Desaster. Noch nie zuvor haben ihnen derart viele Menschen den Rücken gekehrt (wir berichteten). Nicht zuletzt die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit der Inflation und den steigenden Energiepreisen haben zu einer richtiggehenden Flucht geführt. Ziehen die neuerlichen Nachrichten über systemischen Missbrauch in der Katholischen Kirche nun eine weitere Austrittswelle nach sich?
Die Fachleute des Standesamtes gehen von 50:50 aus.
Die Antwort heißt: „Jein“. Die Anzahl der Austretenden in Mannheim, Heidelberg, Weinheim und Schwetzingen zeigt seit 1. Januar 2023 einen sich fortsetzenden Trend, aber keine neuen Rekordzahlen. Die von dieser Redaktion befragten Standesämter halten nur fest, dass Menschen die Kirche verlassen, aber nicht, ob sie katholisch oder evangelisch sind. In Mannheim geht man von einem 50:50-Verhältnis aus, wie ein Sprecher sagt. 1103 Bürger haben sich in der Quadratestadt seit Jahresbeginn von der christlichen Kirche losgesagt.
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Im Vergleichszeitraum des Jahres 2021 waren dies 1267, von Januar bis Mitte Mai 2022 hat die Statistik 1357 festgehalten. Aktuell ist also sogar eher ein leichter Rückgang zu verzeichnen - trotz der erneut verstörenden Informationen aus Freiburg. Dass der frühere Bischof Robert Zollitsch, der im Gutachten wegen bewussten Vertuschens sexueller Übergriffe besonders belastet wird, eine Mannheimer Biografie hat, ist bekannt, führt aber offenbar nicht zu einer weiteren Verschärfung der Situation. Bürger müssen bei ihrem Austritt keine Erklärung über Gründe abgeben, warum sie die Kirche verlassen.
Keine Aufgliederung nach Konfessionen
Für Weinheim ergibt sich ein ganz ähnliches Bild, wie Pressesprecher Roland Kern auf Anfrage mitteilt. Waren im vergangenen Jahr bis 30. April 207 Weinheimer aus der Kirche ausgetreten, so sind es heuer „nur“ 166 Personen. Eine Aufgliederung nach den Konfessionen wird auch hier nicht vorgenommen. In Schwetzingen sind seit 1. Januar 2023 bis heute 89 Menschen so von der Kirche enttäuscht worden, dass sie keine Steuern mehr dafür zahlen wollen. Im Jahr 2022 hatten 282 Personen „gekündigt“ - der Trend ist also ähnlich wie in Weinheim und Mannheim: Die Kirchen verlieren weiter auf hohem Niveau Mitglieder, doch weniger als noch 2022.
Neue Studie im Herbst
Fast 2100 Menschen haben in Heidelberg im vergangenen Jahr einer der beiden christlichen Konfessionen adieu gesagt. Bis zum jetzigen Zeitpunkt sind es erneut 611 - insofern ebenfalls kein neuer Negativrekord, aber ein Wert, der den Priestern in Heidelberg nicht unbedingt ein Grinsen ins Gesicht zaubern dürfte. Ganz gut ablesen lässt sich der Trend über Jahre in der Heidelberger Statistik seit 2016. Damals gingen 856 Bürger pro Jahr. Lediglich zwischen 2019 und 2020 sank die Anzahl der Austretenden von 1234 auf 1231. Dafür war der Sprung danach umso größer. 1729 kehrten der Kirche in Heidelberg 2021 den Rücken. Rechnet man die aktuellen Austritte auf das Jahr 2023 hoch, so wurden mehr etwas mehr als 1800 konfessionslose Heidelberger hinzukommen. Der Bericht einer Arbeitsgruppe hatte im Missbrauchsgutachten mehr als 250 Priester aufgelistet, die sich zwischen 1946 und 2014 an rund 540 Kindern und Jugendlichen durch Ausübung sexueller Gewalt versündigt haben. 33 weitere Beschuldigte sind beispielsweise Diakone und andere Mitarbeitende im Kirchendienst. Im Fokus der Vorwürfe steht neben dem genannten früheren Freiburger Erzbischof Robert Zollitsch auch dessen Vorgänger Oskar Saier. Ihnen werden in dem 600-seitigen Bericht „massive Vertuschung“ und „Ignoranz geltenden Kirchenrechts“ vorgeworfen.
Massive Vertuschung und Ignoranz geltenden Rechts.
Die Missbrauchsgutachten, die es seit einiger Zeit in immer weiteren Bistümern gibt, lösen weitere Kritik an der Kirche aus. Rufe nach einer staatlichen Instanz, die an den Gutachten mitwirkt, werden lauter. Bisher werden die Berichte von der Kirche in Auftrag gegeben. Harald Dreßing, Leiter der Forensischen Psychiatrie am Mannheimer Zentralinstitut für psychische Gesundheit, hatte gemeinsam mit anderen im Jahr 2018 die wissenschaftliche Studie zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche nach dem Zweiten Weltkrieg vorgelegt und damals angesichts der furchterregenden Statistiken nur von der „Spitze des Eisbergs“ gesprochen.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Kirchenaustritte: Katholiken und Protestanten müssen Spaltung überwinden