Kommentar Kirchenaustritte: Katholiken und Protestanten müssen Spaltung überwinden

MM-Redakteur Stephan Alfter zu der Frage, wie die christliche Kirche nach der Aufarbeitung von Missbrauchsskandalen zu neuer Stärke finden kann

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Stephan Alfter
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Rhein-Neckar. Wie kann ich einer Kirche noch vertrauen, die wirklich alles tut, um ihre treuesten Fürsprecher zu verprellen? Wohl nicht zum letzten Mal stellte sich diese Frage nach der Veröffentlichung des Missbrauchsgutachtens vor wenigen Wochen in der Erzdiözese Freiburg. Aktuelle Statistiken in Städten des Rhein-Neckar-Kreises zeigen, dass die Austrittswelle sich gegenüber dem katastrophalen Jahr 2022 zwar verlangsamt hat, aber ungebrochen ist. In Mannheim haben seit Januar wieder 1103 Bürger entschieden, nicht mehr Teil einer Organisation sein zu wollen, die sich durch Missbrauch, Lügen und Vertuschung in Teilen de facto kriminalisiert hat. Erst vor wenigen Tagen hat die Staatsanwaltschaft in Köln mitgeteilt, die Ermittlungen gegen Kardinal Rainer Maria Woelki im Kontext seiner Kenntnisse über Missbrauchstaten sogar auszuweiten. Was ist das nur für eine Welt, in der den obersten Moralpredigern ausgerechnet die Moral abhanden gekommen ist?

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Das Misstrauen beschränkt sich aber nicht auf die katholische Kirche. Die Fluchtbewegung ist auf protestantischer Seite nicht eben kleiner. Mit Spannung wird ein Gutachten erwartet, das der in Mannheim wirkende Wissenschaftler Harald Dreßing für den Herbst angekündigt hat. Seine Erläuterungen zur großen MHG-Studie führten 2018 zu jenen Verwerfungen, die im römischen Castel Gandolfo sogar den mit dem Tode ringenden Papst Benedikt XVI. alias Joseph Ratzinger in Bedrängnis brachten. Auf eine radikale Erneuerung warten Gläubige seither vergebens.

Dass das Glaubensbekenntnis kein Kirchenbekenntnis ist, ist länger bekannt. Wie ein Katalysator haben aber Inflation und die einschneidende Erhöhung der Energiepreise gewirkt. Der Austritt aus der Kirche war für viele das naheliegendste Steuersparmodell. Das mag man aufgrund des aufopferungsvollen Einsatzes glaubwürdiger Geistlicher hier vor Ort bedauern, ist aber Fakt.

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Eine zentrale Frage bleibt, warum die stärkste Medizin im Kampf gegen einen dramatischen Mitgliederschwund im Koffer bleibt? Der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) hat im März im Speyerer Dom dazu eine großartige, aber kaum beachtete Rede gehalten. Die Christen müssten ihre seit der Reformation im Jahr 1517 gelebte Spaltung überwinden, sagte er. Der Fortschritt in den Bemühungen um Ökumene sei unzureichend. Seine Schlussfolgerung ist richtig: Die christliche Kirche kann nur als Einheit zu neuer Stärke finden. „Ut unum sint“, heißt es auf dem Domportal in Speyer. Übersetzt heißt das: „Dass sie eins seien“.

Redaktion Reporter in der Metropolregion Rhein-Neckar