Genau 504 Jahre ist es an diesem Wochenende her, dass Martin Luther seine 95 Thesen in Wittenberg angeschlagen haben soll – und damit das lostrat, was man Reformation nennt. Daraus entstand, nach der Trennung von den Katholiken, die Evangelische Kirche. Den Reformationstag feiert sie als ihren Geburtstag.
Aber gibt es etwas zu feiern? Die beiden großen Kirchen schrumpfen immer mehr. Nicht allein die Missbrauchsskandale sorgen dafür, dass viele Menschen austreten. Generell lässt die Bindung an große Institutionen nach, was Gewerkschaften und Parteien ebenso spüren. Und von der Kirche wenden sich auch manche Leute ab, die zwar weiter an Gott glauben, aber entweder mit den (gerade bei Katholiken) antiquierten Strukturen nichts anfangen können oder einfach bequem Steuern sparen wollen.
Eine kleiner werdende Kirche kann nicht mehr so groß präsent sein wie bisher – das ist logisch, wenngleich schmerzlich. Noch in den 1960er Jahren wurde in jedes Neubaugebiet eine (Beton-)Kirche gesetzt, deren Unterhalt nun zu teuer ist. Aber auch nicht alle Gotteshäuser aus Renaissance oder Gotik können überleben.
Das wird Stadtteile verändern, nicht nur optisch. Mit den Kirchen (und Gemeindehäusern) gehen leider zugleich wichtige, oft die einzigen Orte für die Begegnung von Menschen, für soziales und kulturelles Leben, für Jugendarbeit und Senioren und auch Raum für ehrenamtliches Engagement verloren. Da hat die Kirche bisher, indem sie Räume nicht nur für Gläubige zur Verfügung stellte, einen großen Dienst an der Gemeinschaft geleistet. Doch wenn die Mitglieder dieser Gemeinschaft der Kirche immer stärker den Rücken kehren, darf man sich nicht wundern, wenn sich die Kirche ebenso zurückziehen muss.
Aber das birgt nicht nur für die Stadt(teil)entwicklung große Gefahren, sondern gleichfalls für beide christliche Kirchen. Von Mission, also der Gewinnung neuer Gläubiger, ist ohnehin bei ihnen keine Rede mehr. Aber je weiter sie sich zurückziehen, je mehr Gebäude sie aufgeben, je geringer ihre Präsenz in den Vororten ist, umso weniger können sie ihrem Auftrag nachkommen. Der lautet, das Wort Gottes und damit die Botschaft der Hoffnung zu verkünden, Trost und Kraft zu spenden, aber auch Gemeinschaft zu stärken. Doch Glaube braucht Heimat, nicht nur geistige Heimat. Ohne Wände und ein Dach ist das auf Dauer schwer. Da beide christliche Kirchen vor gewaltigen Einschnitten stehen, sollten sie wenigstens in jedem Ort eine – ökumenische – Anlaufstelle erhalten.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Kirche ohne Gotteshaus geht nicht
Peter W. Ragge zur drohenden Aufgabe von Kirchen