"MM"-Debatte

Warum laufen uns die Pflegekräfte davon, Frau Douma?

Von 
Eva Douma
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Eine Mitarbeiterin der Pflege in Schutzausrüstung betreut einen Covid-Patienten. In der Corona-Krise mussten Pflegekräfte auf Intensivstationen noch mehr Personen betreuen als üblich. © dpa

Die Pflege ist weiter in der Krise. Auch das Klatschen im Frühjahr 2020 hat nicht dazu geführt, dass mehr Menschen den Pflegeberuf ergreifen möchten. Ist die Pflege nicht attraktiv? Möbelpflege, Gesichtspflege, Autopflege. „Gut gepflegt“ gilt doch in vielen Bereichen als Auszeichnung. Wer allerdings Alte, Kranke oder Menschen mit Behinderung versorgt, sollte vor allem gut organisiert sein. Schließlich ist der Zeitplan eng getaktet. Schreiben und lesen sollte man zudem gut können, um die stetig wachsenden Dokumentationspflichten zu erfüllen für die Qualitätssicherung.

Von „Qualität in der Pflege“ ist ohnehin seit Jahren viel die Rede. Qualitätssiegel sind eingeführt worden, Qualitätskontrollen und Qualitätsbeauftragte gibt es. Studieren kann man die Pflege auch und die Wissenschaft entwickelt sich. Nur am Ende der Kette, da geht es immer noch darum, dass ein alter oder kranker, manchmal einsamer, manchmal auch schwieriger Mensch versorgt werden will. Satt und sauber sollte er mindestens sein. Aber vielleicht möchte der Mensch auch ermuntert, erheitert, betreut und umsorgt werden?

Die Gastautorin

Eva Douma ist Sozial- und Verwaltungswissenschaftlerin und hat über ein rechtshistorisches Thema promoviert. Als selbstständige Personal- und Organisationsberaterin ist sie in Frankfurt am Main vor allem für die Sozialwirtschaft tätig. Als Moderatorin und Führungskräfte-Coach unterstützt sie Menschen und Organisationen dabei, Lösungen zu entwickeln, um in Zukunft besser arbeiten und leben können.

 

Es ist nicht so, dass es keine Menschen gibt, die sehr gerne anderen helfen möchten, die ein Händchen für Alte und Kranke haben und empathisch sind. Doch der Personalschlüssel ist eng bemessen. In der Geriatrie ist eine Pflegefachkraft für zehn Patienten am Tag und 20 in der Nacht verantwortlich. Da darf dann nichts schief gehen, und die Pflegekraft rennt.

Haben Sie schon mal ein krankes Kind in der Nacht zu Hause betreut - ein Kind, das Schmerzen hat, das zu klein ist, um sich präzise äußern zu können, das leidet? Im Krankenhaus, wo die schweren Fälle sich versammeln, da muss eine Fachkraft zehn Kinder gleichzeitig versorgen.

„Nein, keine Zeit, ich muss weiter“, das ist es, was Pflegekräfte laufend sagen müssen. Die Uhr tickt und die Pflegedokumentation muss erstellt werden - wegen der Qualitätssicherung. Da bleibt nicht viel Zeit zum Reden, Zuhören und Beruhigen. Keine Zeit für Zuwendung, Aufmerksamkeit, und für einen Kaffee schon mal gar nicht.

Corona verschärfte die schon zuvor angespannte Lage. Vor allem zu Anfang der Pandemie im Frühjahr 2020 gerieten nicht nur die Pflegebedürftigen in eine immer schwierigere Lage, sondern auch die Pflegekräfte. Weil die Stationen vollliefen, wurden auf den Intensivstationen die Personaluntergrenzen außer Kraft gesetzt. Statt wie vorgeschrieben maximal zwei Patienten am Tag und drei in der Nacht zu betreuen, waren nun mehr erlaubt, weil das Personal fehlte und die Patienten mehr wurden. Aber gerade die Covid-Patienten waren aufwendig und hätten einer 1:1-Betreuung bedurft.

Und in den Einrichtungen der Pflege- und Behindertenhilfe saßen die Menschen fest. Keine Angehörigenbesuche im Pflegeheim, keine Arbeit mehr in der Behindertenwerkstatt. Kein Ausgang. Die Pflegekraft war häufig der einzige und manchmal auch der letzte menschliche Kontakt. Im Vollschutzanzug, wegen der Ansteckung - Demente verschreckend und Sterbende verstörend. Wenn es dann noch zu wenig Masken gibt und der Dienstplan immer voller wird, weil immer mehr Kollegen und Kolleginnen ausfallen, dann wird die Pflege zu Stress pur.

Aber hat Corona nicht gezeigt, wie systemrelevant die Pflege ist? Standen wir im Frühjahr 2020 nicht auf den Balkonen und klatschten für den unermüdlichen Einsatz der Pflegekräfte? Wie steht es um die Anerkennung der Pflegearbeit heute?

Gab es nicht eine Coronaprämie? Vollmundig wurde durch den Bundesgesundheitsminister für jede Pflegekraft ein Bonus von bis zu tausend Euro in Aussicht gestellt. Und manches Bundesland legte sogar noch 500 Euro drauf. Den Bonus gibt es nur einmalig, nicht monatlich. Leider. Aber immerhin ist er ein Zeichen der Anerkennung, dachte nicht nur manche Pflegekraft. Aber bei vielen kam das Geld nicht im Mai, auch nicht im Juni, Juli oder August. Stattdessen begann erst einmal ein Hin und Her zwischen den beteiligten Institutionen. Wer zahlt das eigentlich? Die Kranken- und Pflegekassen? Der Bund? Das Land? Wir sind ja hier schließlich nicht bei der Lufthansa, wo mal schnell neun Milliarden zur Klimaverschlechterung rausgepustet werden. Die Gewerkschaft Verdi meldete, dass bundesweit bis Dezember 2020 mehr als 40 Prozent der Beschäftigten in der ambulanten und teilstationären Pflege noch nicht ihren Coronabonus erhalten haben.

Und wer genau soll den Bonus bekommen? Pflegekräfte in Heimen: ja; Pflegekräfte in Behinderteneinrichtungen: erst mal nein; Pflegekräfte im Krankenhaus: na gut. Aber die Hauswirtschafterin im Altenheim bekommt keinen Bonus. Auch nicht die Serviceassistentin in der Pflege im Krankenhaus oder die Mitarbeiterin eines ambulanten Dialysezentrums. Schließlich sei der Corona-Bonus nicht als Risiko- oder Gefahrenzulage gestaltet, so das Verwaltungsgericht München. Ach so. Da hatten wir wohl was missverstanden.

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Und wer die Prämie bekam, bekam häufig nur einen Bruchteil, weil in Teilzeit tätig. Weil die Strukturen es nicht anders hergeben. Morgens und abends möchten Pflegebedürftige gewaschen und angezogen werden. Mittags ist da nicht so viel Bedarf. Also wird die Dienstzeit aufgeteilt. In der Früh zeitig los, dann kurz nach Hause und am Abend wieder anrücken. Wer das nicht kann oder will, arbeitet in Teilzeit. Auch weil der permanente Umgang mit Krankheit, Tod, Einsamkeit oft anders gar nicht auszuhalten ist. Nicht alle stecken das einfach weg. Die Regeneration der eigenen Kräfte findet in der Freizeit statt und davon bedarf es einiger im Angesicht des Elends.

Was ist die Perspektive? Soll mehr Geld ins System? Mit gut 2100 Euro brutto wird ein Altenpflegehelfer in Vollzeit vergütet. Die Altenpflegefachkraft erhält 3000 Euro im Median (Wert, der genau in der Mitte steht, wenn man alle Gehälter der Größe nach sortiert).

Wer den besonders stressigen Job auf der Intensivstation als Fachkraft erledigt, bekommt im Median 3900 Euro. In der Spitze können es auch mal 4500 Euro sein. Brutto. So die Erhebungen der Arbeitsagentur. Dafür dürfen die Pflegekräfte auch am Wochenende ran und werden kurzfristig aus dem „Frei“ geholt, wenn die Personaldecke dünn ist. Pflegebedürftige haben täglich Hunger und müssen auch am Samstag und Sonntag und an Weihnachten auf die Toilette.

Höhere Löhne schaden sicher nicht. Aber noch wichtiger sind veränderte Personalschlüssel. Manche Pflegekraft wünscht sich nichts sehnlicher als Zeit. Mehr Zeit für die Pflege, zum Wohle der Pflegebedürftigen und der Pflegenden. Personalmangel führt zu Abstrichen in der Qualität, zu noch höherer Belastung der verbliebenen Beschäftigten, die dann auch noch krank werden oder aus Selbstschutz den Dienst quittieren - so das Ergebnis des DGB-Index „Gute Arbeit“, der die Arbeitsqualität aus Sicht der Beschäftigten erfasst, erhoben noch ganz unbeeinflusst von Corona.

Zwei Pflegekräfte dort, wo heute nur noch eine steht, das wäre ein qualitativer Sprung. Damit die Pflege nicht nur den Hintern, sondern auch die Seele umfasst. Dann würde auch manche Pflegekraft wieder Vollzeit arbeiten und die Personalsituation könnte sich entspannen. Aber das wird richtig teuer. Und wer will schon höhere Kassenbeiträge zahlen, nur damit es der Oma nebenan besser geht und sie mehr Ansprache hat?

Weil im Sommer 2021 die Fallzahlen niedrig sind, rückt die Pflege wieder aus dem Blickfeld. Die Kneipen öffnen und die Ferien möchte man unbeschwert genießen. In der Pflege hat sich nichts geändert. Business as usual. Corona hat die Pflegenden noch stärker als zuvor beansprucht, viele haben ihre eigene Gesundheit riskiert zum Wohle der Hilfsbedürftigen. Ausgebrannt ist mancher, fatalistisch sind viele und manche, die noch können und sich selbst wertschätzen, suchen sich eine neue Arbeit. Vielleicht ja auch im Autohaus. Fachverkäufer im Kfz-Bereich verdienen im Median 3500 Euro. Spitzenkräfte kommen auf 5000 Euro. Dafür arbeiten sie nicht nachts, selten sonntags und betreuen ihre Kunden immer schön der Reihe nach und nicht zehn auf einmal. Des Deutschen liebstes Kind ist und bleibt das Auto und auch das will gut gepflegt werden.

Ich bin dankbar für jede Pflegekraft, die noch nicht den Job quittiert hat, die nicht zynisch ist und die das Beste aus der schlechten Situation macht. Und wenn ich das nächste Mal ein Auto benötige, dann klatsche ich einfach. Klappt bestimmt. In der Pflege geht das doch auch.

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