Gegenwärtig habe ich als Präsident des Deutschen Lehrerverbands fast täglich ein Déjà-Vu-Erlebnis, wenn ich mir das Handeln und die Verlautbarungen von verantwortlichen Politikern, aber auch Parteien im Hinblick auf den Schulbetrieb im nächsten Schuljahr anschaue. Genau wie vor einem Jahr im Sommer 2020, als schon einmal die Inzidenzen so niedrig waren wie jetzt, wurde entgegen der Warnungen von Virologen und des Robert-Koch-Instituts in Berlin die Pandemie voreilig für beendet erklärt und normaler Unterrichtsbetrieb für den Herbst angekündigt.
Damit eines klar ist: Alle Betroffenen wünschen sich mehr Normalität im nächsten Schuljahr.
Wegen der dritten Welle kam es dann ganz anders, wie wir alle wissen. Was ich aber den Landesregierungen und den Schulministerien viel stärker ankreide als ihre damalige Fehlprognose ist ihre anschließende Tatenlosigkeit während der Sommermonate 2020. In fast allen Bundesländern versäumte man es, sich auch auf ein alternatives Szenarium, also eine eventuelle neue Infektionswelle vorzubereiten. Weder wurde im Sommer letzten Jahres die Digitalisierung der Schulen entscheidend vorangebracht noch wurden die Schulen auf eventuell notwendige zusätzliche Gesundheitsschutzmaßnahmen wie regelmäßige Schnelltestungen oder zusätzliche Raumluftfilteranlagen vorbereitet. Das Ergebnis kennen wir, die dritte Welle erwischte die Schulen mit voller Wucht, bis zu 300 000 Schülerinnen und Schüler waren pro Tag in Quarantäne, ab Mitte Dezember war überall wieder Distanzunterricht angesagt. Als im April und Mai ’21 der Präsenzunterricht schrittweise wieder anlief, hatten zudem fast alle Bundesländer Probleme, gleichzeitig die notwendigen regelmäßigen Schnelltestungen anlaufen zu lassen, weil es an Testkapazitäten fehlte.
Wir brauchen mehr Tempo beim Ausbau der digitalen Infrastruktur an Bildungseinrichtungen.
Klassenfahrten statt Testpflicht
Und aktuell macht die Politik wieder genau das Gleiche wie vor einem Jahr. Die Kultusministerkonferenz hat jüngst die Pandemie an Schulen quasi für beendet erklärt, das ein oder andere Bundesland legt sich jetzt schon darauf fest, dass im nächsten Schuljahr alles wieder normal sein werde, ohne Masken- und Testpflicht, aber mit Schulfesten und Klassenfahrten, als ob nichts gewesen wäre. Damit eines klar ist: Alle Betroffenen wünschen sich mehr Normalität im nächsten Schuljahr. Wir haben alle erlebt, wie unerlässlich der direkte persönliche Kontakt zwischen Lehrkräften und Schülern, aber auch der Kinder und Jugendlichen untereinander ist. Schule ist ein sozialer Lernort im besten Sinne des Wortes. Nachhaltige Lernprozesse setzen lebendige Kommunikation und ein intensives Miteinander voraus. Aber das Virus ist nichts, was sich unseren Wünschen und Hoffnungen so einfach fügt, es ist noch da und es wandelt leider auch seine Gestalt und sein Bedrohungspotenzial, wie wir an den neuen Varianten wie Delta oder Kappa sehen.
Es ist höchste Zeit, dass wir in allen Bundesländern Lernstandserhebungen durchführen.
Es ist richtig, dass wir derzeit sehr niedrige Inzidenzen haben, sie sind aber nicht niedriger als vor einem Jahr, als uns dann im Herbst die nächste Infektionswelle überrollte.
Und ja, es ist auch richtig, dass wir bei den Impfquoten deutliche Fortschritte gemacht haben, fast 60 Prozent haben eine Erstimpfung, die Hälfte davon auch eine Zweitimpfung. Bei der Impfquote der Lehrkräfte sieht es sogar noch besser aus, rund 40 bis 50 Prozent dürften derzeit bereits einen vollständigen Impfschutz genießen. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Kinder und Jugendliche derzeit fast nicht und auch im Herbst nur zu einem geringen Teil geimpft sein werden, also genau die Gruppe, die mit elf Millionen den größten Teil der Schulfamilie ausmacht. Und das Argument, das sei ja nicht so schlimm, weil Kinder nur sehr selten an Corona schwer erkranken, zieht auch nicht mehr so, seit Studien herausgefunden haben, dass die Hospitalisierungsquote, also die Zahl derer, die ins Krankenhaus müssen, miteinem Prozent bei der Deltavariante deutlich höher ist als beim Ausgangsvirus. Ein Prozent klingt vernachlässigenswert, aber wir reden da dann in Deutschland von bis zu 100.000 potenziell Betroffenen, von eventuellen Long-Covid-Schäden ganz zu schweigen. In Deutschland waren die Schulen bislang keine Treiber der Pandemie. Durch Delta hat sich die Gefährdungslage aber stark verändert, wie wir in Großbritannien und Portugal sehen, wo die Schulen nach Aussagen dortiger Behörden und Verbände zu „Inkubationszentren“ geworden sind.
Wir hoffen alle, dass Deutschland von der dramatischen Entwicklung in Portugal, Großbritannien und Chile verschont bleibt, - Tatsache ist aber, dass das niemand sicher voraussagen kann.
Deshalb ist es nicht nur klug, sondern absolut notwendig, dass die politisch Verantwortlichen alles tun, um sich auf alle möglichen Szenarien intensiv vorzubereiten, und nicht wie im letzten Sommer wieder die Hände in den Schoß zu legen. Wer will, dass Schulen möglichst lange offen bleiben - und das wollen wir ja eigentlich alle -, der muss mit zusätzlichen Gesundheitsschutzmaßnahmen alles tun, damit das auch verantwortbar möglich bleibt. Nicht redlich ist es dagegen, wenn jetzt schon einzelne Parteien und Politiker der Bevölkerung zusichern, man würde an Schulen nie wieder Distanz- und Wechselunterricht anordnen, egal wie hoch die Inzidenzen und wie stark die Gesundheitsgefahren sind. Wer dadurch letzten Endes die Durchseuchung fast aller Kinder und Jugendlichen wissentlich in Kauf nimmt, muss sich fragwürdiges ethisches Verhalten vorwerfen lassen.
Wir haben jetzt in den nächsten zwei bis drei Monaten ein Zeitfenster, das von der Politik, den Kommunen und Schulträgern, aber auch von der Schulverwaltung und den Ministerien intensiv und dringend genutzt werden muss. Den Eltern, Schülerinnen und Schülern sowie den Lehrkräften sei jetzt in den Sommerferien eine Verschnaufpause gegönnt, Politik und Verwaltung dagegen sollten eine Sonderschicht einlegen. Folgende Hausaufgaben müssen Landesregierungen und Schulministerien bis Herbst dringend erledigen:
Erstens: Wir brauchen mehr Tempo beim Ausbau der digitalen Infrastruktur an Bildungseinrichtungen in Deutschland. Es versteht eigentlich niemand mehr, warum immer noch nur ein geringer Prozentsatz der Mittel des Digitalpakts auch wirklich an den Schulen vor Ort angekommen ist. In erster Linie brauchen Schulen schnelles Internet, Breitband- und Glasfaseranschlüsse. Ohne schnelles Internet funktionieren auch Videosysteme in größerem Maßstab nicht. Das Ziel muss sein, dass bis Ende dieses Jahres möglichst alle Schulen über eine solche Anbindung verfügen. Derzeit sind es nur etwas mehr als die Hälfte. Und wir brauchen schnell einen Digitalpakt 2. Das klingt zunächst verwunderlich, weil noch nicht einmal die Mittel des ersten Digitalpakts voll abgerufen worden sind, ist aber kein Widerspruch. Man muss jetzt dafür sorgen, dass Investitionen in die Digitalisierung der Schulen nachhaltig sind und nicht in einigen Jahren das Geld für notwendige Ersatzbeschaffungen und den professionellen Support fehlt.
Zweitens: Solange es eine Differenz gibt zwischen der Impfwilligkeit von Schülern und den entsprechenden Impfangeboten müssen wir Kinder und Jugendliche weiter besonders schützen. Neben der eventuell im Herbst wieder notwendigen Maskenpflicht und weiterhin erforderlichen regelmäßigen Schnelltestungen geht es dabei vor allem um den Einbau von Raumluftfilter- oder auch UV-C-Licht-Anlagen. Diese sind in der Lage, bis zu 99 Prozent aller Viren aus der Raumluft herauszufiltern bzw. abzutöten. Leider gibt es derzeit nur in fünf Bundesländern Förderprogramme für den Einbau mobiler Filteranlagen. Aufgrund des von den Kommunen aufzubringenden Eigenanteils werden diese Fördermittel selbst dort nur unzureichend abgerufen. Gerade hat der Bund ein Förderprogramm für stationäre Raumluftfilteranlagen beschlossen, sogar mit einer 80-prozentigen Förderquote. Von diesem Programm können aber nur Schulen profitieren mit Kindern, die nicht älter als 12 Jahre sind. Fast alle weiterführenden Schulen, und das sind über zwei Drittel aller Schulen, gehen dabei also leer aus. Beim Einbau von Raumluftfilteranlagen muss also einerseits nachgebessert, andererseits aber auch Gas gegeben werden. Eigentlich sind die Sommerferien ein guter Zeitpunkt, um solche Einbauten ohne Störungen des Unterrichtsbetriebs durchführen zu können.
Geringere Ausbildungsreife, mangelnde Studierfähigkeit – die Zeche müsste dann die nachwachsende Generation bezahlen.
Drittens: Eine Riesenherausforderung für die Politik ist die Ausgestaltung und Organisation eines umfassenden Aufholförderprogramms für Kinder und Jugendliche, die während der Coronazeit schulisch mehr oder weniger stark abgehängt worden sind. Zwar gibt es inzwischen ein Milliardenprogramm der Bundesregierung (eine Milliarde für Lernförderung, eine Milliarde für soziale Ausgleichsförderung), aber es fehlt noch die organisatorische und konzeptionelle Ausgestaltung. Es fehlen aber auch noch vielfach gleichwertige Anstrengungen und Investitionen der Bundesländer, die ja in erster Linie für Bildung zuständig sind. Voraussetzung dafür, dass Förderprogramme bedarfsgerecht und zielgenau auf die Bedürfnisse der Schulen und der Schülerschaft zugeschnitten sind, ist eine umfassende Lernstandserhebung. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass wir derzeit gar nicht wissen, wie groß die Lücken sind, wie viele Schüler eine einmalige oder auch längerfristig begleitende Förderung brauchen. Es ist höchste Zeit, dass wir in allen Bundesländern entsprechende Lernstandserhebungen durchführen, besser jetzt als erst im nächsten Schuljahr. Denn diese Lernstandserhebungen bilden die Grundlage für die Beratung der Eltern und die Ausgestaltung der Nachholförderung.
Der Gastautor
Heinz-Peter Meidinger (Jahrgang 1954) war Gymnasiallehrer und Schulleiter bis zum Ruhestand. Von 2004 bis 2017 war er Vorsitzender des Deutschen Philologenverbandes. Seit 2017 ist er Präsident des Deutschen Lehrerverbandes und gefragter Interviewpartner zum Thema Schulpolitik. Im Januar 2021 erschien sein Buch „Die 10 Todsünden der Schulpolitik“ im Claudius Verlag. (Bild: Miriam Kurz/Claudius Verlag)
Derzeit ist das Aufholprogramm der Bundesregierung noch ein bloßer Papiertiger, bis auf die Finanzierung sind alle entscheidenden Fragen noch offen. Woher kommt das zusätzlich erforderliche Personal? Wie werden die Ressourcen an die einzelnen Schulen verteilt? Wie sollen die Mittel vor Ort eingesetzt werden? Welches Mitspracherecht haben die Schulleitungen? Wie gewährleisten wir die notwendige Qualitätskontrolle bei den Angeboten? Findet auch eine entsprechende Evaluation der einzelnen Maßnahmen statt? Meine Befürchtung ist, dass mangels zusätzlichen Personals - eigentlich müsste man jetzt bereits massiv bei Lehramtsstudierenden, pensionierten Lehrkräften oder auch Dozenten von Volkshochschulen um die Mitwirkung werben - vor allem digitale Angebote von kommerziellen Nachhilfeinstituten und Startups finanziert werden. Ob digitale Angebote dabei hilfreich sind, genau die Schülerinnen und Schüler zu erreichen, die wir im Distanzunterricht verloren haben, - dahinter setze ich mal ein großes Fragezeichen.
Wenn die Nachholförderung nicht gelingt, dann droht tatsächlich eine coronageschädigte Schülergeneration in den nächsten Jahren die Schulen zu verlassen, die mit deutlich weniger Kenntnissen und Kompetenzen und damit geringeren Zukunftschancen die Schulen verlassen wird. Geringere Ausbildungsreife, mangelnde Studierfähigkeit - die Zeche müsste dann die nachwachsende Generation bezahlen.
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