Debatte

Sind wir im Alter anfälliger für radikale Ansichten, Frau Pohl?

Menschen der Generation 50plus teilen häufiger Fake News als junge Menschen und scheinen anfälliger für Verschwörungsideologien zu sein. Woran liegt das? Ein Gastbeitrag.

Von 
Sarah Pohl
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Fake News: Das Thema betrifft jeden. Doch Studien zeigen, dass ältere Menschen sich schwerer tun, Falschmeldungen als solche zu erkennen. © Getty Images/iStockphoto fizkes

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Generation 50plus ist anfälliger für Fake News und Verschwörungstheorien.
  • Gründe dafür sind mangelnde Medienkompetenz und Unsicherheit.
  • Der Umgang mit radikalisierten Älteren erfordert Verständnis und Prävention.

Wenn das Telefon in unserer vom Kultusministerium Baden-Württemberg geförderten Beratungsstelle ZEBRA/BW klingelt, dann hören wir oft Geschichten, wie die von Tabea (46). Sie erzählt: „Meine Mutter macht mir wirklich Sorgen. Sie flutet unseren Familienchat mit Fake News und allen möglichen Verschwörungstheorien. Es nervt total. Immer wieder gibt es Streit deswegen. Wie soll ich damit umgehen?“

Studien zeigen: Digitale Kompetenzen nehmen mit zunehmendem Alter ab

Auch Nico (35) weiß ähnliches zu berichten: Sein Vater sei Reichsbürger, er horte Vorräte im Keller, habe sich völlig zurückgezogen und rechne mit dem baldigen Umsturz. Was wir anfangs noch als spannende Zufälle sahen, entpuppte sich jedoch bald als durchgängiges Muster. In den überwiegenden Fällen wenden sich junge Menschen an uns, die in Sorge um ihre radikalisierten Eltern sind, vor allem wenn es um Verschwörungstheorien geht. Waren es in den vergangenen Jahrzehnten meist besorgte Eltern, sie sich an Beratungsstellen für Weltanschauungen wandten, weil sie befürchteten, dass ihre Kinder sich sogenannten Jugendsekten anschließen könnten, so zeichnet sich beim Thema Verschwörungstheorien ein gegenteiliges Bild ab.

Dass wir es hier mit einem generationalen Thema zu tun haben, zeigt auch der Blick auf die Forschung. So fällt es älteren Menschen oft schwerer als jungen Menschen, Fake News überhaupt als solche zu erkennen. Entsprechend werden diese dann nicht nur geglaubt, sondern auch geteilt. In Familienchats, in Telegram-Gruppen oder mit Freunden. Meist tun Menschen dies aus Angst oder Sorge. Denn gerade Fake News, die stark emotionalisieren, verbreiten sich wie ein Lauffeuer. Während die Bedeutung der sozialen Medien zur Verbreitung von Nachrichten aller Art in allen Altersgruppen deutlich zunimmt, nimmt die digitale Nachrichtenkompetenz mit zunehmendem Alter ab, wie eine Studie von Meßmer, Sängerlaub und Schulz (2021) belegt. Ist also mangelnde Medienkompetenz ursächlich? Nur zu einem Teil. Das Thema ist deutlich komplexer und vielschichtiger.

55 Prozent der Reichsbürger in Baden-Württemberg sind älter als 50 Jahre

Werfen wir einen Blick auf die Querdenker- und Reichsbürgerbewegung. Erinnern Sie sich an die Umsturzpläne einer Gruppe Reichsbürgern rund um Prinz Reuß im Dezember 2022? War dies tatsächlich nur ein „Rollator-Putsch“ (wie AfD-Chefin Weidel behauptete) oder müssen wir genauer hinsehen? Eine Analyse des Landesamts für Verfassungsschutz in Baden-Württemberg von 2021 liefert Zahlen: Demnach sind 76 Prozent der Reichsbürger in Baden-Württemberg älter als 40 Jahre, 55 Prozent sogar älter als 50 Jahre. Besonders selten vertreten sind jüngere Menschen. Ähnliches befördert auch eine Studie der Universität Basel von Frei und Nachtwey (2021) über die Querdenkerbewegung zutage: Auch hier lag der Altersdurchschnitt fast bei 50. Das, was wir da also in unseren Beratungsgesprächen an generationalen Mustern erkennen, ist kein Zufall.

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Rückzug in eine Filterblase hat oft einen Vertrauensverlust als Ursache

Uns geht es uns nicht darum, die sogenannten Boomer als unqualifizierte digitale Trottel darzustellen und ihnen gar kollektiv den imaginären Aluhut überzustülpen. Unser Bestreben ist es, besser zu verstehen, was Ursachen sein können und dafür zu sensibilisieren, für diese Generation adäquate Präventionsangebote zu schaffen. Denn davon gibt es bislang kaum welche. Die Gründe, weshalb sich ältere Menschen radikalisieren, sind vielschichtig und es lohnt immer auch ein Blick auf die individuelle Situation.

Denn manchmal drückt sich im Rückzug in eine extreme Filterblase auch ein Gefühl von Ohnmacht oder Machtlosigkeit aus, etwa weil man enttäuscht ist über politische Entscheidungen, weil Ansprüche an die Gesellschaft nicht erfüllt wurden. Dieser politische und gesellschaftliche Vertrauensverlust hat also auch etwas damit zu tun, wie gut es Politik und Gesellschaft gelingt, Menschen in ihren Sorgen, Nöten und Befürchtungen wahrzunehmen und abzuholen. Radikale Gesinnungen sind damit gleichzeitig auch ein Ausdruck von Misstrauen und laden die andere Seite dazu ein, sich Gedanken darüber zu machen, wie Vertrauen wiederhergestellt werden könnte. Denn wer sich gehört fühlt, muss nicht so laut schreien und wird wieder leiser.

Manchmal geben Verschwörungstheorien Halt - zumindest kurzfristig

Dann gibt es auch Menschen wie beispielsweise Anne (62), die uns erzählte, dass sie zu Beginn der Pandemie unter starken Ängsten um ihre Gesundheit litt und erst durch bestimmte einschlägige Verschwörungserzählungen wieder zu mehr Sicherheit fand. Weil sie nun besser verstand, wer vermeintlich Schuld war an der ganzen Misere, weil es eine psychische Entlastung ist, einen Sündenbock für Krisen zu haben und weil Komplexität und Unvorhersehbarkeit manchmal eine Überforderung sein können und Ängste verstärken. Ihr half der Verschwörungsglaube kurzfristig, Sinn zu finden, und erlaubte ihr, handlungsfähig zu bleiben (sie nahm an den Protesten teil). Besonders nachhaltig war diese Strategie jedoch nicht, denn ihre sozialen Kontakte litten stark unter ihrer Gesinnung und die alten Ängste wurden durch neue Ängste ersetzt. Sie fürchtete nun den großen Zusammenbruch.

Die Gastautorin



Dr. Sarah Pohl leitet die Zentrale Beratungsstelle für Weltanschauungsfragen des Landes Baden-Württemberg (ZEBRA/BW) in Freiburg (www.zebra.bw.com).

Sie ist Erziehungswissenschaftlerin, systemische Paar- und Familienberaterin und hält bundesweit Vorträge und Workshops. Sie hat zahlreiche Sachbücher und Ratgeber zu Themen rund um Verschwörungstheorien und spirituelle Krisen geschrieben.

Ihr Buch „Abgetaucht, radikalisiert, verloren? Die Generation 50+ im Sog der Filterblasen“ , das sie gemeinsam mit Mirijam Wiedemann geschrieben hat, ist gerade im V&R Verlag erschienen.

Ich erinnere mich an eine junge Frau, die mir völlig verzweifelt berichtete, dass ihre Mutter ausgewandert sei, und jetzt irgendwo in Südamerika in einer Gemeinschaft mit Gleichgesinnten Corona-Leugnern ihre Bestimmung gefunden habe. Die Mutter lebte, wie sich herausstellte, vorher sehr isoliert, hatte wenig Kontakte. Nun hatte sie eine Gruppe Gelichgesinnter gefunden, das tat gut, denn wir alle sind Herdentiere. Sich zugehörig zu fühlen hilft, gemeinsame Themen verbinden, ein gemeinsames Feindbild eint. Mittlerweile ist die Mutter zurückgekehrt, es „menschelte“ auch in dieser Gemeinschaft.

Zudem nimmt bei älteren Menschen auch das Interesse an gesellschaftlichem Engagement zu, in einem gewissen Rahmen kann die Beschäftigung mit entsprechenden Theorien auch als Engagement gedeutet werden oder der Selbstaufwertung dienen.

Trotz unterschiedlicher Meinungen immer auf Augenhöhe bleiben

„Wie soll ich mit meiner Mutter umgehen?“, fragte Tabea aus dem eingangs erwähnten Beispiel. Es gibt kein Patentrezept zur Deradikalisierung, aber ein erster Schritt ist es, zuzuhören und Fragen zu stellen. Tabea kann versuchen, zu verstehen, welche unerfüllten Bedürfnisse und Gefühle bei der Mutter dazu führten, sich auf Verschwörungserzählungen einzulassen. Sie könnte sich auch überlegen, was ihre Rolle in dem Konflikt mit der Mutter ist und weshalb es immer wieder laut und ungemütlich wird, wenn über bestimmte Themen diskutiert wird. Denn zum Streit gehören Zwei. Manchmal hilft es auch, Themen auszuklammern, sich Pausen zu gönnen. Meist bringen Diskussionen auf der Sachebene wenig, stattdessen ist es hilfreich, die Beziehungsebene zu beleuchten. Doch vor allen Dingen sollten Tabea und ihre Mutter versuchen, trotz unterschiedlicher Meinungen in Kontakt zu bleiben, sich weiterhin respektvoll und auf Augenhöhe zu begegnen, denn allzu oft radikalisieren wir uns selbst im Umgang mit radikalen Menschen. Wir verwechseln den Menschen mit seiner Meinung und vergessen, dass uns doch in den meisten Fällen viel mehr verbindet als trennt. Tabeas 17-jähriger Sohn schickt der Oma ab und an einen Link zu einer Faktencheckerseite. Vom Enkel kann sie das besser annehmen.

Übrigens berichtet mir Tabea einige Wochen später: „Meine Mutter erinnert mich an meine Katze. Die bringt mir auch immer tote Mäuse ins Haus, ich glaube, das tut sie, weil sie mich mag. Vielleicht schickt meine Mutter mir all die Fake News und nervigen Videos auch nur deswegen, weil ich ihr besonders wichtig bin und sie mich gerne hat.“

Es braucht Präventionsangebote besonders für ältere Menschen

Wir können also, wie Tabea es getan hat, in unseren individuellen Beziehungen versuchen, besser zu verstehen. Genauso wichtig ist es jedoch, auch auf gesellschaftlicher Ebene die Situation älterer Menschen besser zu verstehen und entsprechende Angebote zu entwickeln. Wenn etwa mehr Begegnungs- und Austauschräume geschaffen werden, verhindert dies Filterblasenwirkungen und Isolation. Gleichzeitig braucht es auch einen anderen Umgang mit Identitätskrisen und Ängsten dieser Generation, etwa der Furcht vor Benachteiligung, Bedeutungsverlust und Altersarmut. Wir sollten also auch auf gesellschaftlicher Ebene lernen, differenzierter hinzusehen und genauer hinzuhören.

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