Mannheim. „Boah, der nervt“ und „Die hat aber Haare auf den Zähnen!“ – wir alle kennen sie: Menschen, die ständig aufmüpfig werden, viel kritisieren und alles verändern wollen. Die einfach unbequem sind. Als Nachbarn und Kollegen sind sie schwierig – für Chefinnen sind solche Mitarbeiter die Hölle. Zeit, darüber zu sprechen, wie wir mit ihnen umgehen sollten.
Denn es sind doch genau diese Menschen, die trotz Gegenwind nicht aufgeben, die uns weiterbringen – konstruktive Kritik vorausgesetzt. Es sind diese Menschen, die wir brauchen, um die Gesellschaft voranzutreiben und neu zu formen. Denn die, die nicht müde werden, Missstände anzusprechen, zeigen so doch am meisten Herzblut für das System und seine Menschen. Egal, ob das eine Familie, eine Firma oder eine Gesellschaft betrifft.
Wir müssen also laut sein. Nicht, weil wir Streit suchen, sondern weil es unsere menschliche Pflicht ist. Wenn wir sehen, dass etwas schiefläuft oder ungerecht ist, dann dürfen wir nicht still danebenstehen. Dass das manchmal nicht gut ankommt? Geschenkt. Dass wir dann als „schwierig“ oder „unbequem“ gelten? Der Preis der Freiheit und des selbstbestimmten Lebens. Denn ein System, das Einige begünstigt zulasten Vieler, wehrt sich immer durch persönliche Angriffe, weil sachlich nichts zu holen ist.
Wir alle stehen in der Schuld einer langen Historie
Das dürfen wir nicht vergessen – Kollegen sollten sich nicht gegenseitig bekämpfen, Nachbarn nicht miteinander zanken und schon gar nicht sollte Otto Normalverbraucher sich einreden lassen, der mittellose Flüchtling sei schuld an seiner Misere. Wenn es doch das System der Bequemen, der maßlosen Bürokratiehürden, der Verantwortungsverweigerung ist, das die Schuld am Stillstand und am Rückschritt trägt.
Was wir uns viel zu selten bewusst machen: Wir alle stehen in der Schuld einer langen Historie aufmüpfiger Frauen und Männer, die für unsere Rechte gekämpft haben. Nicht nur mit Worten und Likes auf Social Media, sondern mit Taten. Mit Blut, Schweiß und Tränen. Unbeirrt und unbequem. Ohne sie gäbe es für uns alle keine freie Berufswahl, keine Gleichberechtigung im Gesetz, keine Möglichkeiten, uns scheiden zu lassen und frei unsere Partner zu wählen.
Ohne sie hätte ich zum Beispiel niemals für Deutschland Kampfjets fliegen dürfen. Ohne sie hätte ich nie die Chance gehabt, ESA-Reserve-Astronautin zu werden. Ohne sie wäre ich heute nicht Rettungshubschrauberpilotin. Einer dieser Menschen, dieser Kämpferinnen ist Tanja Kreil.
Tanja Kreil zieht für ihre Rechte vors Gericht
1994 wollte sie als Elektronikerin zur Bundeswehr – durfte aber nicht, weil Frauen damals nicht in den militärischen Dienst aufgenommen wurden. Kreil zog vor den Europäischen Gerichtshof und gewann 2000 das Verfahren. Erst dadurch wurde 2001 die Bundeswehr für Frauen in allen Bereichen geöffnet. Ein Wahnsinn, wenn man sich das heute vor Augen führt: Ich durfte nur Jetpilotin werden, weil eine andere Frau den Mut hatte, vor Gericht zu ziehen und dieses Verfahren sechs Jahre lang durchzog, ohne davon jemals selbst zu profitieren. Wir alle stehen auf den Schultern dieser Menschen und in ihrer Schuld – daher ist es ist unsere Pflicht, dieses Erbe zu behüten und weiterzutragen. Damit die nächste Generation ihre Rechte nicht erst wieder einklagen – oder schlimmer – tatsächlich erkämpfen muss.
Wer denkt, das Thema Gleichberechtigung und Menschenrechte sei erledigt, weil es „doch jetzt im Gesetz steht“, irrt gewaltig. Noch dieses Jahr sagte ein Mann ganz unironisch zu mir: „Ich verstehe gar nicht, was ihr euch noch beschwert. Die Gleichberechtigung ist doch gesetzlich verankert und damit ist das Thema gewonnen.“ Nur sind Rechte auf dem Papier nichts wert, wenn wir nicht alle dafür einstehen, dass Recht und Gesetz dann auch gelebt werden. Und diese Rechte bleiben nicht automatisch bestehen – denn es gibt zu viele, die gerne wieder verschiedene Klassen von Menschen hätten. In dem Irrglauben, sie gehörten dann zur oberen Klasse …
Deutschland ist in vielen Dingen bekanntermaßen spät dran und momentan gefühlt nur eine Wahl davon entfernt, viele Rechte wieder zurückzunehmen. 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe endlich als Straftat anerkannt – neun Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung. 2001 wurde die Bundeswehr gegen den politischen Willen für Frauen geöffnet – da hatten die US-Streitkräfte bereits 200.000 Soldatinnen. Ein Anteil von 15 Prozent – ein Rekrutierungspool, der Deutschland damals fehlte und zwangsläufig dazu führt, dass offene Stellen nicht oder schlechter besetzt wurden.
Keine deutsche Frau war bislang im Weltall
Alles Schnee aus längst vergangenen Zeiten? Unser nächster Kanzler war schon länger Bundestagsabgeordneter, da hat sich die Republik noch mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, diesen Pool an höchstqualifiziertem Nachwuchs zu nutzen. Da rekrutierte man lieber die 15 schlechtesten Prozent der Männer als die besten 15 Prozent der Frauen.
Eine Sache, die sich bis heute auch in der deutschen Raumfahrt durchzieht – Deutschland belegt im weltweiten Ländervergleich der Geschlechter den allerletzten Platz: zwölf Männer zu null Frauen. Abgeschlagen hinter so „feministisch woken“ Ländern wie Pakistan, Weißrussland oder Saudi-Arabien. Die schaffen es nämlich, ihre gut ausgebildeten Frauen zu Forschungszwecken ins All zu schicken.
Warum aber bekommen wir das nicht hin? Haben wir nicht genug qualifizierte Frauen oder Veränderungen, um ein „Anders-Sein“ zu riskieren?
Das ist keine Frage, die nur Frauen betrifft. Frauenrechte sind ein einfacher Indikator dafür, wie gut es uns allen geht. Schauen wir nach Afghanistan: ein Land, in dem Frauen entrechtet sind, in dem sie nicht alleine das Haus verlassen oder sich ohne Erlaubnis unterhalten dürfen. Glaubt aber irgendjemand, dass Männer dort glücklicher sind? Dass dort trotzdem Wohlstand und Wirtschaftskraft herrschen? Würde ein deutscher Mann mit einem afghanischen Mann tauschen wollen? Wohl kaum.
Es geht um unser aller Menschenrechte
Denn es geht beim Thema Frauenrechte um unser aller Menschenrechte. Darum, wie wir uns als Gesellschaft darauf einigen, miteinander umzugehen. Darum, wie wir unsere Mütter und Töchter behandeln. Darum, wie wir unsere Söhne erziehen und unsere Väter wertschätzen. Und das ist keine Einigung zwischen „denen da oben“ und „uns hier unten“ oder dem, was Berlin vorgibt und der Bürger notgedrungen mitmachen muss. Sondern eine Frage für uns alle: Wollen wir uns wirklich alle zusammen kaltherzig und egoistisch herunterwirtschaften? Oder schaffen wir es, uns gemeinsam mit Menschlichkeit, Mitgefühl und Mut zu begegnen und an das Gute in unserer Gesellschaft, an unsere gemeinsame Stärke zu glauben? Denn wir sind fähig, mächtig und stark – wenn wir es wollen!
Wir müssen handeln. Im Großen wie im Kleinen. Wir müssen Missstände ansprechen, Lösungen suchen, uns beschweren, klagen, Konsens finden, bessere Strukturen aufbauen. Die eigene Stimme nicht zu erheben, ist keine Option. Wer nicht für seine Rechte kämpft, gibt sie stillschweigend auf. Der rollt sich wie ein Käfer auf den Rücken und wedelt hilflos mit den Beinen, bis Rettung kommt – die in dieser Welt nicht kommen wird. Das muss nicht unser Schicksal sein – wir können uns gemeinsam selbst befreien.
Unsere Rechte wurden mit hohem Blutzoll, Schweiß und Tränen über Jahrhunderte erkämpft. Männer und Frauen wie Tanja Kreil, und viele vor ihr, haben persönliche Opfer erbracht, um uns die Freiheiten zu geben, die wir heute genießen. Wir sind es ihnen und der nächsten Generation schuldig, dass dieser Kampf nicht umsonst war. Und wenn das bedeutet, dass wir manchmal unbequem, laut oder „schwierig“ sein müssen – dann ist das eben so. Lasst uns die Lauten, Unbequemen und Schwierigen gemeinsam feiern und vorantragen – für unser aller Wohl.
Die Gastautorin
Nicola Winter, geboren 1985, war über ein Jahrzehnt Kampfflugzeugpilotin bei der Bundeswehr und flog als eine von nur drei Frauen den Eurofighter .
Nach ihrer Zeit bei der Luftwaffe arbeitete sie als Unternehmensberaterin bei McKinsey & Co., bevor sie sich der Raumfahrt und Krisenforschung widmete. Heute ist sie in der Astronautenreserve der ESA , promoviert in Raumfahrtwissenschaften und absolviert eine Ausbildung zur Rettungshubschrauberpilotin beim ADAC.
Als gefragte Speakerin und Autorin ihres Buches „The Sky Is No Limit“, erschienen im Ariston-Verlag, teilt sie ihre Expertise in Leadership, Krisenmanagement und Resilienz.
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