Früher hieß es oft: Geben ist seliger denn Nehmen. Heute müsste es heißen: Streben ist seliger denn Haben. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Menschen alle zunehmend im Panikmodus leben. Klimawandel, Wokeness, Wirtschaftsflaute, Politikverdrossenheit, Inflation, Krieg usw.
Alles auf einmal! Nichts funktioniert mehr! Die Zukunft ist eine einzige Horrorvision und vor allem: Früher hat es das alles nicht gegeben! Früher war alles besser! Wirklich? Rein faktisch betrachtet geht es der größten Weltbevölkerung, die es je gab (acht Milliarden), im Durchschnitt sehr viel besser als der jeweils viel kleineren Weltbevölkerung der vergangenen Jahrhunderte.
Welch' grandiose Leistung, auf die wir als Spezies Mensch alle zusammen sehr stolz sein sollten - trotz aller verbleibenden Probleme
Das gilt für ganz Asien, große Teile Afrikas, aber ganz sicher für den sogenannten Westen, also USA, Kanada, Südamerika und ganz Europa – und hier insbesondere für Deutschland als viertreichste Nation der Welt (mit der geringsten Bevölkerung unter den ersten vier).
Wir alle (!) leben im historisch höchsten Wohlstand aller Zeiten, obwohl wir so viele sind wie nie zuvor. Welch’ grandiose Leistung, auf die wir als Spezies Mensch alle zusammen sehr stolz sein sollten – trotz aller verbleibenden Probleme. Den Zusammenhang zwischen unserem Wohlstand und der schieren Masse an Menschen zu erkennen, sollte bei näherer Betrachtung nicht schwerfallen.
Acht Milliarden Menschen konsumieren mehr als vier Milliarden (1974). Alles was konsumiert wird, muss vorher produziert werden und schafft somit Arbeit und Wohlstand. Dass dieser niemals gleich verteilt ist, sein kann und sein wird, liegt (leider) in der Natur der Dinge, ist aber für diese Betrachtung nicht relevant.
Relevant ist, dass die Menschen sich eigentlich täglich darüber freuen müssten, wie gut es ihnen geht, dass sie in der heutigen Zeit und nicht vor 110 Jahren (kurz vor Kriegsausbruch), 100 Jahren (Hyperinflation), 90 Jahren (Machtergreifung der Nazis), 80 Jahren (Zweiter Weltkrieg) oder 70 Jahren (Nachkriegsarmut) gelebt haben.
Relevant ist, dass das Plus an Wohlstand fast ausschließlich in kapitalistisch geprägten Ländern erarbeitet wurde.
Relevant ist, dass nicht der Sozialismus höheren Wohlstand für die Arbeiterklasse gebracht hat, sondern das kapitalistische System, welches ohne sie gar nicht funktionieren würde.
Relevant ist, dass diese Symbiose erfolgreich verschwiegen wird und die Menschen sich deshalb „ausgenutzt“ fühlen.
Relevant ist, dass der allgemeine Wohlstand die Sehnsucht nach Sicherheit auf die Spitze treibt, während jegliche Risikofreude auf der Strecke bleibt.
Relevant ist, dass zwar alle von Chancengleichheit sprechen, aber keiner mehr bereit ist, ein Risiko einzugehen, um bestehende Chancen zu nutzen.
Relevant ist, dass die Menschen den Wohlstand, den sie haben, nicht wirklich genießen können, weil ihre Angst, ihn zu verlieren, dauernd überwiegt.
Relevant ist, dass in Zeiten geringeren Wohlstands das gemeinsame Streben nach „mehr“ Vorrang vor dem individuellen Absichern des „ist“ hatte.
Relevant ist, dass hoher Wohlstand paradoxerweise Egoismen und dadurch Frustrationen erzeugt, während in schwierigeren Zeiten der Altruismus zum Wohlbefinden trotz widriger Umstände beiträgt.
Relevant ist, dass Wohlstand verhindert, dass gemeinsame Visionen umgesetzt werden können.
Relevant ist, dass die zusätzlichen vier Milliarden Menschen seit 1974 durch ihren Konsum am meisten zu den aktuellen Umweltproblemen beigetragen haben. Die Industrie, den Individualverkehr, das Fliegen, die Landwirtschaft oder die Reichen dafür (je nach Bedarf) als Hauptschuldige zu deklarieren, ist schlicht naiv, denn nichts wird produziert, nur um des Produzierens willen, sondern alles nur, weil es Konsumenten (also uns) dafür gibt.
Der Gastautor
Mathias Berkel leitet in fünfter Generation seit 1989 die Berkel Unternehmensgruppe in Ludwigshafen. Er ist Netzwerker, Mäzen und bezeichnet sich als absoluten Optimisten.
Die Berkel AHK stellt seit 1847 Alkohol her. Nach dem überraschenden Tod seines Vaters muss der damals 28-Jährige das angeschlagene Unternehmen sanieren, er kauft Partnern Anteile ab und stellt für den Betrieb die Weichen in die Zukunft.
Mathias Berkel stammt aus Germersheim und hat Brennereitechnologie in Berlin studiert. Im Anschluss bildet er sich in den USA und der Schweiz fort. Mit seinen rund 50 Mitarbeitern pflegt Berkel ein Vertrauensverhältnis, das auf Teamarbeit fußt.
Der Unternehmer ist Mittelständler mit Leib und Seele, der tief in der Pfalz verwurzelt ist. Er engagiert sich kulturell, kämpft um das Image der Stadt Ludwigshafen und hat eine Stiftung zur Alphabetisierung von Jugendlichen ins Leben gerufen.
Relevant ist schließlich, dass wir uns nur dann weiterentwickeln können, wenn wir lernen, unseren Wohlstand zu schätzen, um dadurch einen positiven gemeinsamen Antrieb zu entwickeln, ihn auf Dauer zu erhalten und qualitativ weiter zu mehren (wobei auch Reduktionen ein Gewinn sein können).
Relevant ist, dass wir wieder in das Streben verliebt sein sollten, anstatt uns nur um das zu sorgen, was wir bereits haben!
Die momentan herrschende Katastrophenstimmung ist jedenfalls nicht hilfreich, sondern droht eher, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung zu werden. Optimismus ist eben nicht naiv, sondern das Fundament jeder Kreativität. Viele ziehen aber den Pessimismus vor, denn er ist weniger verpflichtend.
Eine positive und optimistische Grundeinstellung ist eben keine rosarote Brille, sondern viel mehr Ausdruck von Kraft und Willensstärke, das Negative unermüdlich zu bekämpfen. Wir müssen diese grassierende „Unzufriedenheit im Wohlstand“ ein Stück weit bekämpfen.
Sie entspringt dem sehr deutschen Hang zum Perfektionismus, der zwar die Basis für unseren Fortschritt ist, aber eben auch jede Leichtigkeit und Heiterkeit nahezu ausschließt.
Fazit: Wir müssen unseren Wohlstand endlich erkennen, ihn anerkennen und wieder lieben – um ihn zu erhalten!
Wir müssen unseren Wohlstand endlich erkennen, ihn anerkennen und wieder lieben - um ihn zu erhalten
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