Debatte

Das Schulsystem befindet sich in einer Krise – was können wir dagegen tun, Herr Reich?

Autor Kersten Reich hat seit 1979 an der Universität Köln im Bereich Internationale Lehr- und Lernforschung an der Ausbildung tausender Lehrkräfte mitgewirkt und kennt die Probleme aus erster Hand

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Kersten Reich
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Das Schulsystem stagniert, findet unser Gastautor Kersten Reich. Er schlägt drei Ansatzpunkte vor, um Schulen attraktiver zu gestalten – für Schüler und Lehrer. © istock/Andrea Enderlein/istock

Mannheim. Jede Woche gibt es in den Medien Beiträge, die eine Krise der deutschen Bildung beschreiben. Seien es Harald Lesch, der eindringlich im Fernsehen und auf Youtube darstellt, warum „unser Schulsystem Mist ist“. Oder Andreas Schleicher, der in der OECD arbeitet und die Pisa-Studien mitverantwortet: Er dringt darauf, für mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt und Gerechtigkeit eine gute Bildung für alle zu stärken. Meine eigenen Erfahrungen und Forschungen gehen auch in diese Richtung. Dabei fallen mir zehn Problempunkte der deutschen Bildungsstagnation auf, die ich hier kurz nennen will:

1. Im Vergleich zu anderen Ländern gibt es nur eine sehr kurze gemeinsame Schulzeit aller Kinder in der Grundschule. Andere Länder setzen auf eine längere gemeinsame Zeit, um das gesamte Niveau nach Wissen und Verhalten anzuheben.

2. Ein Bildungsstreit um die pädagogischen Ziele, bei dem die politischen Parteien ihre eigenen Positionen im Länderförderalismus profilieren, statt nach gemeinsamen Lösungen in einem Konsens zu suchen.

3. Eine Zunahme an Bildungsinhalten, die alle beliebig nebeneinander gestellt werden, statt nach wichtigen und weniger wichtigen Themen zu priorisieren. So fehlt vor allem ein Konsens über eine notwendige Grundbildung für alle, auf der dann Differenzierungen aufgebaut werden könnten.

4. Bildung wird mehr so verstanden, dass Problemlösungen anderer auswendig gelernt werden sollen, statt eigene Probleme zu erkennen und ihre Lösung schon in der Schule zu suchen. Angesichts des wachsenden Populismus und von Verschwörungstheorien muss dringend mehr forschendes und kritisches Lernen ermöglicht werden.

5. Bildung als Massenprodukt sollte nicht nur Wissen wie in einer Quizshow vermitteln, sondern muss Methoden für alle Lernenden bieten, um Illusion und Wirklichkeit, Täuschung und Wahrheit unterscheiden und prüfen zu lernen.

6. Die Schule ist bisher zu wenig auf die spätere Arbeitswelt orientiert. Andere Länder bieten ab der zehnten Klasse einen akademischen und beruflichen Vorbereitungszweig an, was fehlenden Abschlüssen und dem Fachkräftemangel entgegenwirken kann.

7. Der Sanierungsstau deutscher Schulgebäude und fehlende Plätze werden von Heranwachsenden und Eltern nur deshalb hingenommen, weil die Erwartung an die Schule bereits niedrig geworden ist. Wer eine Zeit im Ausland war, sieht, dass auch ärmere Länder mehr Respekt vor ihren Kindern haben.

8. Deutschland ist nicht nur in der Menge des Lehrstoffs einmalig, sondern auch in der Abgehobenheit der Ausbildung der Lehrkräfte von den Anforderungen im späteren Beruf. Lehrkräfte werden so entfernt von ihrer späteren Arbeit ausgebildet, dass dafür der Begriff Praxisschock erfunden werden musste.

9. Begleitet wird dies alles von einer Bürokratie, die so hohe Zeiten der Selbstbeschäftigung erforderlich macht, dass mittlerweile trotz Beförderungsstellen kaum jemand in die Leitung aufsteigen will. Andere Länder kennen dieses Phänomen nicht.

10. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass es Bildungsreformen in Deutschland schwer haben. Wo sollen wir anfangen? Wo ist der Widerstand gegen Veränderungen und neue Lösungen am geringsten? Aber vor allem: Wer hat noch den Mut, in einem festgefahrenen System Schritte zu wagen, die für Teile der Betroffenen unbequem sein können, die einen übergreifenden Kompromiss auf der einen Seite und eine Vision für etwas Neues auf der anderen Seite erforderlich machen?

Der Gastautor



  • Universitätsprofessor Dr. Kersten Reich ist an der Universität Köln im Forschungsgebiet „Internationale Lehr- und Lernforschung“ tätig.
  • Er hat zahlreiche Bücher zur Bildung auf deutsch und englisch veröffentlicht und ist Mitglied der Expertenkommission Inklusion der Deutschen UNESCO.
  • Zum Thema erschien 2023: Faire Bildung für alle! Wie sich Schule neu erfinden kann. Das Buch erschien im Beltz-Verlag.

Ich will drei der Probleme herausgreifen, um Möglichkeiten zu zeigen, die noch nicht einmal Geld kosten, sondern sparen können, die aber den Mut erfordern, den Reformen anderer Länder zu folgen – angefangen beim Lehrkräftemangel und wie wir ihn überwinden können. Keiner leistet sich eine solch aufwendige Lehrkräfteausbildung wie Deutschland.

Drei Jahre Bachelor, zwei Jahre Master, dann ein Referendariat von bis zu zwei Jahren. Nicht nur die Länge ist angesichts der Bezahlung auf Masterniveau später unattraktiv, auch die Inhalte sind nicht am Beruf, sondern den Fachwissenschaften orientiert. Durchfall- und Abbrecherquoten sind sehr hoch. Warum muss eine Mathe-Lehrkraft gemeinsam mit Fach-Mathematikern einen hoch spezialisierten Stoff studieren, wenn später auf dem Niveau der Grundschule sehr einfache Vermittlungen erfolgen müssen? Selbst für das Abitur werden keine Fachmathematiker benötigt. Diese Frage stellt sich in allen Fachwissenschaften. Fast alle Länder der Welt bilden deshalb ihre Lehrkräfte für Schulfächer in Bachelor und Master mit Praxisanteilen ab dem ersten Semester aus, die letzte Prüfung befähigt dann für den Schuldienst.

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Fachwissenschaftliche Ausbildung und Qualifizierung von Lehrkräften können zwar in einer Hochschule geleistet werden, aber sie müssen getrennt vom reinen Fachstudium erfolgen, damit die angehenden Lehrerinnen und Lehrer vor allem auch Grundlagen der Pädagogik, Psychologie, Kommunikation, der Förderbedarfe und anderes mehr im Hinblick auf die Anforderungen des Berufs erlernen. Bisher messen wir die Anerkennung ausländischer Abschlüsse am deutschen Sonderweg und grenzen uns damit aus dem internationalen Kontext aus, was den Lehrkräftemangel verstärkt, weil niemand sonst diese Voraussetzungen erfüllt.

Zweiter Ansatzpunkt ist die Bildung als Vergangenheitsorientierung. In der Befragung „Zukunft der Bildung 2050“ haben Bildungsexperten und -expertinnen wie Jugendliche beklagt, dass die deutschen Lehrpläne freier, vielfältiger und zukunftsoffener werden müssen. Vor allem mehr Erfahrungen jenseits der Schule und eine bessere berufliche Orientierung werden gewünscht. Im Kern werden grundlegende Kompetenzen und nicht vorweggenommene Spezialisierungen aus Studium und Beruf gefordert. Es wird kritisiert, dass die Lernangebote oft veraltet sind und sich die Arbeits- und Lebenswelt sehr viel schneller verändert als die Schule.

Das Problem der Bürokratie

Schule muss auch konkrete Fragen junger Menschen beantworten. Wie eröffnet man ein Konto? Was bedeuten die Zinsen konkret? Was muss ich bedenken, wenn ich eine Wohnung miete, einen Ratenvertrag abschließe? Wie bewerbe ich mich auf eine Stelle? Verträge, Rechnungen, Versicherungen, Renten und Vorsorge müssen fast immer allein erarbeitet werden, obgleich all dies zu einer Grundbildung gehört, wie sie in anderen Ländern auch vermittelt wird. Deutschland tradiert hier hingegen noch immer ein bürgerliches Milieu, das solche Dinge als Privatsache ansieht und dem Elternhaus überantwortet.

Hinzu kommt das Problem der Bürokratie. Diese verkündet gerne, was alles nicht geht, hat aber keinen Plan für das, was durch freie Initiative alles machbar wäre. Die deutsche Bildungsstagnation findet hier eine ihrer Hauptursachen. Wie ginge es anders? Die UNESCO schlägt vor: Schafft die große Bürokratie ab und legt die Verantwortung der Schule in kommunale Hände. Jede Schule erhält pro Lernenden einen Geldbetrag, den die Schule selbst verwaltet. Dieser Betrag muss alle Bedarfe abdecken und darf nicht zu niedrig sein.

Allein die Auflösung der Bürokratie würde so viele Stellen für die Schule freisetzen, dass diese Reform am Ende sogar Kosten sparen könnte. Das geht nicht in Deutschland? Warum machen es andere Länder erfolgreich? Dort gibt es weder einen Beamtenstatus noch eine reglementierende Schulbürokratie, sondern Nachweispflichten jeder Schule durch externe und unabhängige Evaluation. Wie in jedem anderen Beruf gelten Regeln der Einstellung und Entlassung. Schulleitungen müssen betriebswirtschaftlich qualifiziert sein, die Kommune überprüft die Verwendung der Gelder. Und die Leistungsberichte der Schule werden in der Kommune diskutiert und veröffentlicht. In einer Leistungsgesellschaft kann sich Schule, so heißt es in solchen Systemen, der Leistung nicht verweigern, sondern muss ein Vorbild für alle sein.

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