Wie nur selten in der Weltgeschichte haben sich im Jahr 2023 Umbrüche ereignet, die eine neue Ordnung der Welt erahnen lassen. Da war am 7. Oktober 2023 der unerwartete Anschlag der Hamas auf feiernde Jugendliche in Israel und das grausame Abschlachten selbst von Babys und kleinen Kindern. Es lässt sich noch nicht absehen, wie dieser Anschlag den Nahen Osten verändern wird. Sicher ist allerdings: Eine Rückkehr zum Zustand zuvor ist undenkbar.
In der Ukraine ist die Gegenoffensive, auf die der Westen vor einem Jahr große Hoffnungen gesetzt hatte, gescheitert. Immerhin haben die ukrainischen Truppen dem Druck der russischen Übermacht standgehalten. Fraglich ist, ob die Ukraine im nahenden Frühjahr die Kraft zu einer neuen Offensive finden wird. Russlands Präsident Wladimir Putin jedenfalls setzt darauf, dass er auf Zeit spielen kann.
Im vergangenen Jahr fanden allerdings auch Ereignisse statt, die weniger bedrohliche Schlagzeilen hervorriefen und doch auf eine Ablösung der Weltordnung hindeuten, wie sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstanden ist. So haben sich im August in Johannesburg die fünf Länder der Brics-Staaten getroffen. Das Kunstwort steht für Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika.
Ursprünglich war Brics eine Marketingidee der Investmentbank Goldman Sachs. Vor mehr als 20 Jahren hatte ihr damaliger Chefvolkswirt Jim O’Neill den Begriff Bric erfunden, um Geldanlagen in Brasilien, Russland, Indien und China zu vermarkten. Im Jahr 2010 kam Südafrika hinzu – aus Bric wurde Brics. Diese Länder einte damals kaum mehr als ein hohes Wirtschaftswachstum.
Doch daraus erwuchs ein Staatenverbund, den heute das Bewusstsein prägt, dass die herrschende Weltordnung den aufstrebenden Ländern keinen angemessenen Platz einräumt. Auf dem Brics-Gipfel in Johannesburg sind Ägypten, Äthiopien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Iran aufgenommen worden. In diesem Jahr sollen auf dem Brics-Gipfel in Kasan, der Hauptstadt der russischen Republik Tatarstan, weitere Aufnahmen folgen.
Viele im Westen fürchten diesen Umbruch in der Weltpolitik. Sie beklagen, dass Organisationen und Bündnisse entstehen, die außerhalb der Strukturen der Vereinten Nationen liegen. China hat das Forum der chinesisch-afrikanischen Beziehungen aufgebaut. Aus dem globalen Infrastrukturprojekt Belt and Road Initiative, in Deutschland auch als die Neue Seidenstraße bekannt, ist ein weltumspannendes Wirtschaftsgeflecht entstanden.
Doch diese neuen Organisationen und Initiativen sind in erster Linie ein Beleg für das Selbstbewusstsein, das in den Schwellenländern entstanden ist. Diese Länder sind in vielerlei Hinsicht erfolgreicher als die alten Mächte in Europa und Nordamerika: Die Wachstumsraten sind höher, die Wirtschaft dynamischer und die Gesellschaft offener für Innovationen. Die Trends der Zukunft entstehen weniger in Paris, New York, Berlin oder San Francisco, sondern mehr und mehr in Schanghai, Mumbai und Lagos.
Auch folgen diese Länder nicht mehr blind den alten Mächten. Dem Druck des Westens, Sanktionen gegen Russland zu beschließen, hielten viele Schwellenländer stand. Auch im Gaza-Krieg liegen die Sympathien in vielen Schwellenländern nicht unbedingt aufseiten der Israelis.
Das neue Selbstbewusstsein der Schwellenländer reduziert ohne Zweifel den diplomatischen Einfluss des Westens. Hilflos musste Europa zuschauen, wie in der Sahelzone eine Regierung nach der anderen weggeputscht worden ist. Heute ist diese Region, die größer als die Europäische Union ist, ein Ort der Instabilität. Libyen, Zentralafrika und Sudan sind als Staaten gescheitert. Burkina Faso, Mali und nun auch Niger werden derzeit von Militärjuntas regiert.
Gerade Niger erhob die Bundesregierung zu einem Musterland der Demokratie, wobei jedem klar sein musste, dass dem vorgeblich demokratisch gewählten Präsidenten Mohamed Bazoum dazu die notwendige Legitimität fehlte. Viele Menschen im Sahel setzen größeres Vertrauen in die Militärregierungen als in die angeblich demokratisch gewählten Eliten.
Solche Fehleinschätzungen haben die Glaubwürdigkeit des Westens untergraben. Viele Themen, die der Bundesregierung wichtig sind, stoßen in den Schwellenländern auf wenig Resonanz oder auf offene Ablehnung. Das gilt besonders für die werteorientierte Außenpolitik, wie Außenministerin Annalena Baerbock sie voranbringen will; sie rückt Feminismus oder die Gleichstellung homosexueller Menschen in den Fokus. Gerade in Afrika empfinden viele Regierungen diese Politik als eine unbotmäßige Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten.
Gleichzeitig beklagen Afrikaner eine Doppelmoral der Deutschen. So drängt die Bundesregierung auf die Verwirklichung ihrer Werte in Afrika, geht aber nicht gegen die Anwendung der Todesstrafe oder die Verheiratung Minderjähriger in einzelnen Bundesstaaten der USA vor.
Der Aufstieg der Schwellenländer könnte darauf schließen lassen, dass die Weltgemeinschaft auseinanderdriftet. Symptom dafür ist der Bedeutungsverlust großer Organisationen wie der Vereinten Nationen oder der Welthandelsorganisation WTO. Doch tatsächlich stellen die Schwellenländer weder die aktuelle Weltordnung infrage noch wollen sie eine neue schaffen. Sie sehen aber, dass selbst eine Reform der Vereinten Nationen, der Weltbank oder des Internationalen Währungsfonds (IWF) seit Jahrzehnten ergebnislos diskutiert wird, weil die alten Mächte von ihrer Vorrangstellung nicht loslassen wollen.
Die Sorge, dass die Welt egoistischer, rücksichtsloser und gewaltsamer regiert wird, ist nicht gerechtfertigt. Allerdings wird sie künftig anders regiert werden. Denn der wachsende Einfluss neuer Mächte wie China, Indien, Arabien, Südafrika, Nigeria oder Brasilien wird eine Veränderung der Werte mit sich bringen. Freiheit beispielsweise hat eine völlig andere Bedeutung, je nachdem wen Sie befragen. In Europa wird Freiheit individualistisch verstanden. Ein Buddhist fühlt sich frei, wenn er seine inneren Beschränkungen überwindet. Ein konfuzianisch geprägter Chinese wiederum kann sich Freiheit nicht ohne Einbindung in die Gemeinschaft, die Familie oder eine andere Gruppe vorstellen.
Auf diese Verschiebungen wird die Weltpolitik verstärkt Rücksicht nehmen müssen. Insofern werden auf die Welt viele Veränderungen zukommen: in der Priorisierung von Aufgaben, in der Bewertung von Ereignissen, in den Schwerpunkten der Politik. Anstatt unsere Sicht durchsetzen zu wollen, müssen wir im Westen lernen, den Vertretern der Schwellenländer besser zuzuhören und ihre Sicht auch ernst zu nehmen.
Auch den Regierungen in den Schwellenländern ist bewusst, wie wichtig eine globale Koordination der Politik ist. Im Kampf gegen den Klimawandel steht die Weltgemeinschaft vereint. Das haben 2023 der Afrika-Klimagipfel und die COP28 gezeigt. Selbst in den ölreichen Ländern der Golfregion treiben die Regierungen eine Wirtschaft voran, die nicht mehr auf Erdöl, sondern auf erneuerbarer Energie basiert.
Der Aufstieg der Schwellenländer wird die Welt grundlegend verändern. Doch die Chance auf eine friedliche Kooperation und eine Verständigung, die auf gemeinsamen Interessen basiert, ist damit möglicherweise gewachsen.
Der Gastautor
Der Journalist und Buchautor Christian Hiller von Gaertringen beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Veränderungen, die in den Schwellenländern geschehen.
Er war viele Jahre Wirtschaftsredakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und leitet heute den wöchentlichen Informationsbrief Africa Table.
Über die großen Umbrüche in der Welt hat er verschiedene Bücher geschrieben. Zuletzt ist von ihm „Die Neuordnung der Welt. Der Aufstieg der Schwellenländer und die Arroganz des Westens“ im Finanz Buch Verlag erschienen.
"Diese Länder sind in vielerlei Hinsicht erfolgreicher als die alten Mächte in Europa und Nordamerika"
"Das neue Selbstbewusstsein der Schwellenländer reduziert den diplomatischen Einfluss des Westens"
"Der Aufstieg der Schwellenländer wird die Welt grundlegend verändern"
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