Warum geht es mit der Kinder- und Jugendmedizin bergab, Herr Lüder?

Zu wenige Betten in Kinderkliniken, Penicillin-Saft, der erst in der zehnten Apotheke zu haben ist, und verzweifelte Kinder- und Jugendärzte, die über 100 kleine Patienten an einem Tag behandeln. Ein Gastbeitrag

Von 
Steffen Lüder
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Im Bereich der Kinder- und Jugendmedizin gibt es vieles, was laut unserem Gastautoren Steffen Lüder verbessert werden müsste. Bild: © picture alliance/dpa

Berlin. Seit 2000 arbeite ich in der Kinder- und Jugendmedizin, seit 2008 in einer eigenen Praxis in Berlin Lichtenberg. Sehr aufmerksam verfolge ich die Entwicklung in meinem Bereich. Meine Empfindung: Es geht spiralförmig bergab. Und leider immer schneller. Natürlich warnen die verantwortlichen Kinder- und Jugendärzte und -ärztinnen seit Jahren, doch die politisch Verantwortlichen reagieren nicht angemessen. Klar, jeder Bundesgesundheitsminister schießt neue Gesetze leider wie ein Cowboy aus der Hüfte: ungenau und dann am Ziel vorbei.

© Lüder

Seit vielen Jahren wird die drastische Erhöhung der Studienplätze in der Medizin gefordert, um zunehmende Teilzeittätigkeit, die steigenden Anteile von Angestellten in den Praxen und den wachsenden Anteil von Frauen (in der Pädiatrie liegt der Frauenanteil bei den Facharztprüfungen jetzt bei 87 Prozent) abzufedern. Passiert ist nichts.

Schon seit Jahren warnen wir vor dem deutschlandweiten Abbau von Betten in Kinderkliniken. Pädiatrie bringt den Kliniken nichts ein, wird aus anderen Fachbereichen querfinanziert. Also bauen marktbewusste Geschäftsführer immer weiter Betten ab. Mit dem Ergebnis, dass in den infektreichen Wintermonaten nahezu alle Kinderbetten gefüllt sind und die Verlegung kranker Kinder über große Entfernungen keine Seltenheit ist. Da ist es egal, ob wir nach München oder Berlin schauen.

Förderung der Ausbildung zum Facharzt gefordert

In Berlin verstarb ein sechsjähriges Kind im Februar vergangenen Jahres, als in der Stadt kein freies Bett verfügbar war, es in eine Brandenburger Klinik transportiert wurde, dort nicht stabilisiert werden konnte, dann zurücktransportiert wurde – und das schon unter Reanimation. Leider nicht erfolgreich. Bauen Berliner Kliniken Betten in Kinderkliniken auf? Passiert ist nichts.

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Genauso lange fordert der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte und -ärztinnen eine unbegrenzte Förderung der Ausbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin analog zur Allgemeinmedizin. In Berlin gibt es 16 Förderstellen, auf die sich 300 Praxen bewerben können. Aus Baden-Württemberg wollte eine Kollegin nach Berlin in meine Praxis zur einjährigen Weiterbildung wechseln. Doch eine Stelle wurde erst ein Jahr später frei. Sie hat sich in der Zwischenzeit leider anders entschieden. Wie reagieren darauf die Verantwortlichen? Passiert ist nichts.

Betreuungspauschalen für Kliniken sind unzureichend

Kinder und Jugendliche mit sehr seltenen oder schwerwiegenden Erkrankungen benötigen die Betreuung bei Kollegen in Hochschul- oder speziellen Klinikambulanzen. Die Betreuungspauschalen für die Kliniken sind seit Jahren unzureichend. Die Betreuungsqualität fluktuiert oder sinkt gar. Termine können nur noch weitmaschig vergeben werden. Die Kooperation der ambulanten Ärzte mit jenen in der Klinik scheitert an den knappen Zeitkapazitäten. Das Problem ist nicht neu, passiert ist nichts.

Der Gastautor

Steffen Lüder ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin in Berlin.

Er führt seit 2008 die letzte Kinderarztpraxis in Berlin-Neu-Hohenschönhausen. Zudem ist er im Rahmen der Kassenärztlichen Bereitschaftsdienste in Kinderrettungsstellen in Berlin tätig.

Im Januar 2024 erschien sein Buch „Who cares? Wie unser Gesundheitssystem das Leben unserer Kinder gefährdet“.

Ein wachsendes Problem ist die Versorgung – oder eigentlich die Nichtversorgung – mit Kindermedikamenten. Seit März 2023 und noch anhaltend gibt es keine Penizillinsäfte für kleine Kinder, eine Tablette ist für Zwei- bis Vierjährige selten eine machbare Lösung.

Schuld an der Misere ist die „Geiz ist geil“-Mentalität. Auf der einen Seite führen zwingende Festpreisregelungen dazu, dass die gesetzlichen Krankenversicherungen an die Pharmahersteller immer weniger Geld bezahlen müssen. Wenn dann ein Hersteller für einen 100-Milliliter-Penizillinsaft für Kinder weniger bekommt, als man für ein Kölsch am Rhein bezahlt, dann kann man verstehen, warum ein Produzent die Erzeugung ganz ins Ausland verlagert oder gar nicht mehr am Markt agiert.

Risiko für Schwankungen in der Lieferkette groß

Wenn 70, 80 oder 90 Prozent pharmakologischer Vorstufen aus Indien oder China kommen, ist das Risiko für Schwankungen oder gar ein Abriss der Lieferketten groß, größer und am größten. Warum dies alles? Deutschland und Europa hatten viele Jahrzehnte lang die Produktion der nötigen Arzneimittel in der eigenen Hand. Aber unter dem Wahn der stetigen Profitsteigerung wurde deren Herstellung zuerst verringert, dann beendet und schließlich weitestgehend nach Asien verlagert. Wie sagte Brecht dereinst: Dreihundert Prozent Profit und es existiert kein Verbrechen, selbst auf die Gefahr des Galgens.

Im Frühjahr 2023 schwappte eine Welle mit kindlichen Streptokokkeninfektionen durchs Land, wir Kinderärzte konnten das Wort Scharlach nicht mehr hören. Kinder mit schweren Komplikationen von Streptokokkenerkrankungen wurden in den Kinderkliniken betreut. Selbstverständlich waren Eltern beunruhigt, denn: Penizillin, das Mittel der ersten Wahl: nicht verfügbar. Amoxicillin, Mittel der zweiten Wahl: nicht verfügbar. Amoxicillin-Claculansäure: nicht verfügbar. Schließlich rezeptierten wir Antibiosen, die eigentlich in keinem Lehrbuch für diese Indikation empfohlen wurden. Oder man überlegte, ob man leichte Erkrankungen gar nicht antibiotisch behandelte. Ich fühlte mich wie ein Angler ohne Haken.

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Dann waren die Streptokokkenschnelltests, mit denen man nach fünf Minuten sagen konnte, ob diese Bakterien mit im Spiel sind oder nicht, auch nicht mehr verfügbar. War ich jetzt ein Angler ohne Haken, der nicht am Wasser steht? Wie ging es also weiter? Passiert ist wenig. Fiebersäfte, die eine Zeit lang wie Goldstaub waren, sind wieder verfügbar, Antibiotikasäfte sind es noch nicht. Dafür fehlen jetzt cortisonhaltige Inhalationssprays in kleingerechter Dosierung für Kinder mit Bronchitis oder Asthma.

Wie geht es den Kolleginnen und Kollegen in den pädiatrischen Praxen? Schneller, höher, weiter – das olympische Motto darf getrost umgedeutet werden in ein „schneller, kürzer, schlechter.“ Immer weniger niedergelassene Ärzte müssen immer mehr Kinder und Jugendliche behandeln. Vor zehn Jahren war ein nicht gesperrter Bereich, also ein Zulassungsgebiet, wo sich ein Arzt einfach niederlassen konnte, die absolute Rarität. Heute gibt es rund 135 vakante Kinderarztsitze, also Bereiche, wo junge Fachärzte nicht mal einen Sitz abkaufen müssen, sondern einfach neu loslegen können. Es gibt Landkreise mit fünf oder sechs Kollegen und Kolleginnen. Hört einer von ihnen mit Erreichen des Rentenalters auf, können die verbleibenden Ärzte die Betreuung der Patienten nicht auffangen.

Der letzte Mohikaner

Glauben Sie bitte nicht, dass dies nur für ländliche Regionen wie Bayrischer Wald, Hochschwarzwald, Uckermark oder Dithmarschen gilt. Als ich 2008 in Hohenschönhausen meine Praxis übernahm, waren wir drei Kolleginnen und drei Kollegen. 2016 war ich der letzte verbliebene Mohikaner. Zum April 2023 kam eine neue Kollegin hinzu, in Teilzeit, freitags ist die Praxis immer zu.

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Veröffentlicht
Von
J. G. Plavec, R. Warth
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In meinem ersten Abrechnungsquartal 2008 hatte ich 920 Kinder, im zweiten Quartal 2023 waren es 1911 Kinder. In der gleichen Praxis, in der gleichen Arbeitszeit, mit derselben Anzahl medizinischer Fachangestellter. Ja, ich behandle schneller – und sicher nicht besser. Wo soll die Zeit für Beratung der Eltern auch herkommen? Beim Katastrophenrekord im November 2022 waren 146 Kinder und Jugendliche an einem Montag in der Praxis vorstellig. Was glauben Sie, welche Bewertung da man in Arztportalen bekommt?

Und nun zur Digitalisierung der Arztpraxen. Was sich da so toll anhört, ist in der Realität nicht ausgereift. Neue Chips auf den Krankenkassenkarten lassen Lesegeräte in den Praxen abstürzen, beim Elektronischen Krankenschein wird trotzdem Papier für den Versicherten bedruckt, beim digitalen Rezept wird ein QR-Code auf ein Blatt Papier gedruckt, das die Apotheke einliest. Praxen, die sich der Teleinformatik verweigern, werden mit 2,5 Prozent Honorarabzug bestraft. Die Kritik von Seiten der Praxen ist groß. Passiert ist nichts.

"End-of-pay-day"

Zum Schluss etwas Optimismus: Da ich, wie jeder Arzt, ein Honorarbudget für jedes Quartal bekomme, hatte ich das Pech, über 200 000 Euro Honorar in den letzten 13 Jahren nicht zu bekommen. Das Geld der Kassen ist ja auch nur begrenzt. Mit Ende der Corona-Epidemie wurde es nicht besser, 72 000 Euro in sieben Quartalen nicht erhalten. So schloss ich im vierten Quartal meine Praxis nach dem Motto „End-of-pay-day“ am 2. Dezember 2023 – nachdem ich mein Budget ausgereizt hatte. Gleiches war am 28. Februar 2023 der Fall. Honorar erreicht, Praxis zu. Keiner arbeitet gern einen Monat für Brosamen.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach erkannte diese Problematik und versprach die Endbudgetierung der Kinder- und Jugendärzte, der Bundestag hat es schließlich beschlossen. Seit dem 1. April 2023 erhalten alle Kinder- und Jugendärzte im Land das Honorar, das sie erarbeitet haben. Hier ist erstmals etwas passiert.

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