Zu hören ist der Wellenschlag, das plätschernde Wasser, das Geräusch vom Rudern, das Knarren der Riemen, alles umgeben von Dunkelheit, nur etwas mystisch wirkendem schwachem Licht. Wie damals, in dieser Nacht vor nun 100 Jahren. Albert Röhrenbach (22) und Gottfried Ainser (25) sind in einer kühlen, mondlosen Frühlingsnacht mit einem kleinen Ruderboot über den Bodensee in die Schweiz gefahren, haben Reben geschmuggelt und so den Anbau der beliebten Sorte Müller-Thurgau in Deutschland erst ermöglicht.
Nun steht so ein hölzernes Boot, ein Gesellenstück von Christian Trunz, im Vineum Meersburg. Man darf „Einsteigen und Platz nehmen“, lädt ein Schild ein und läßt ein bisschen spüren, was die zwei jungen Männer erlebt haben.
„Eine mutige Tat“, so Bernd Saible, Vorsitzender vom Heimat- und Geschichtsverein Hagnau. „Man kann deren Leistung nicht hoch genug einschätzen“, bekräftigt Karl Megerle, ehemaliger Vorsitzender vom Winzerverein Hagnau. Denn ehe die Müller-Thurgau-Reben nach Deutschland gekommen seien, habe der Weinbau am Bodensee – und nicht nur dort – „eine ganz kräftige Krise“ erlebt, so Megerle.
Ausstellung in Vineum lässt Geschichte gut nachvollziehen
Die Ausstellung im Vineum lässt das gut nachvollziehen. Der Weinbau am See ist damals gehörig unter Druck. Reblaus und Rebkrankheiten bringen die Produktion gegen Ende des 19. Jahrhunderts fast zum Erliegen. Dann kommt der Erste Weltkrieg, danach die Wirtschaftskrise, die Hyperinflation, die Massenarbeitslosigkeit.
Aber es gibt für kurze Zeit auch das, was man die „Goldenen Zwanziger“ nennt – mit Charleston, Kinopalästen, Kaufhäusern und der von Mannheim aus geprägten Kunstrichtung der „Neuen Sachlichkeit“, die in Meersburg eigens erwähnt wird. Tourismus und Gastronomie erleben einen ersten Aufschwung. So werden 1925 auf der Uhldinger Straße in Meersburg 40 (!) Autos in der Stunde gezählt – damals ein Rekord.
Nur der Wein, den man den Gästen kredenzen kann, schmeckt nicht. Es gibt weißen Elbling, und der sei „von sehr dürftiger Qualität“ gewesen, sagt Matthias Röhrenbach, der Enkel von einem der beiden damaligen Schmuggler. Er kennt noch den Witz vom Dreimännerwein – weil der Elbling so sauer sei, dass man zwei Männer brauche, um ihn einem Mann einzuflößen.
Darunter leidet einst auch sein Urgroßvater Johann Baptist Röhrenbach. Seit 1893 ist die Familie für den damaligen Großherzog von Baden tätig, arbeitet in dessen Sommerresidenz Schloss Kirchberg auf einer Anhöhe über Immenstaad. Röhrenbach sei aber nicht nur Schlossaufseher für das Haus Baden gewesen, sondern auch „Winzer und Wirt mit Leib und Seele“, so sein Urenkel: „Doch es war ihm ein Graus, dass er in der Schlossgaststätte nichts Gutes anbieten konnte.“
Freude aus der Schweiz dagegen schwärmen ihm von einem edlen Tropfen vor, der dort ausgeschenkt werde. Es ist eine Züchtung von Hermann Müller, nach seinem Geburtsort Müller-Thurgau genannt und vor 175 Jahren geboren. Nach Studien an der Universität Neuenburg (Schweiz) und Würzburg sowie der Promotion arbeitet der Biologe von 1876 bis 1890 an der pflanzenphysiologischen Versuchsstation der preußischen Forschungsanstalt Geisenheim im Rheingau.
Schon da experimentiert mit neuen Rebsorten. 150 seiner Stecklinge nimmt er mit, als er 1891 an die Deutsch-Schweizerische Versuchsstation und Schule für Obst-, Wein- und Gartenbau in Wädenswil berufen wird. Dort entwickelt er sich zum Pionier der angewandten Botanik, legt mit seinen Forschungen die Basis für die industrielle Obstsaftproduktion ohne Alkohol. Aber im Mittelpunkt seiner Arbeit steht der Wein. Die mitgebrachten Stecklinge pflanzt er auf den Weinbergen der Landwirtschaftlichen Schule am Schloss Arenenberg, baut sie dort weiter aus. Es ist - von 73 Versuchen mit verschiedenen Stecklingen - Rebstock Nummer 58, der dann den heute weltweit am weitesten verbreiteten Neuzüchtungs-Wein des 20. Jahrhunderts hervorbringt.
Der Züchter geht damals davon aus, dass er Riesling und Silvaner gekreuzt hat, weil er die aromatischen Qualitäten des Rieslings mit der Frühreife des Silvaners kombinieren will. Aber dabei muss etwas schief gegangen sein. In seinem handgeschriebenen Züchtungsbüchlein findet sich der Eintrag, ganz unten klein: „Ob vielleicht doch bei den Versuchen ein fremder Pollenkern sich eingefunden?“
Informationen für Besucher
Vineum: Das Vineum Bodensee (Vorburggasse 11, 88709 Meersburg) im ehemaligen historischen Heiig-Geist-Spital bietet auf 600 Quadratmetern modern aufbereitete Informationen rund um den Wein für alle Sinne sowie eine der ältesten, größten und noch funktionsfähigen Weinpressen der Welt.
Öffnungszeiten: April bis Oktober Dienstag bis Sonntag und an Feiertagen von 11 bis 18 Uhr, November bis 22. Dezember sowie 28. Dezember bis 31. März Samstag, Sonntag und an Feiertagen von 11 bis 18 Uhr. Jeden Sonntag15 Uhr öffentliche Führung, April bis Oktober auch 11 Uhr.
Sonderausstellung: „100 Jahre Müller -Thurgau“ bis einschl. 2. November 2025. Öffentliche Führungen mit Weinprobe 21. September und 26. Oktober, 16 Uhr.
Eintritt: Kombiticket (Dauer- und Sonderausstellung) Erwachsene 9 Euro, ermäßigt 7 Euro
Weinbaumuseum am Zürichsee: Austraße 40, CH-8804 Au, bis 26. Oktober jeweils sonntags 11 bis 17 Uhr, Ausstellung 175 Jahre Hermann Müller-Thurgau. pwr
Was er ahnt, das stimmt. 1996 gelingt Wissenschaftlern der Höheren Bundeslehranstalt für Wein- und Obstbau in Klosterneuburg (Österreich), den genetischen Code zu entschlüsseln, und 2000 bestätigt dies das Julius Kühn-Institut in Deutschland. Es stellt sich heraus, dass nicht Silvaner, sondern Madeleine Royale – eine eher unbekannte Tafeltraube – in der Rebe steckt.
Aber egal - er schmeckt. 1897 beginnt Müller-Thurgau mit der Vermehrung, ab 1903 wird die Sorte in der Schweiz stärker angebaut, und sie findet schnell viele Abnehmer. „Es ist ein fruchtig-frischer Wein mit leichtem Muskatton, im Anbau mit hohen Ertragsmöglichkeiten und in der Gastronomie sehr gefragt“, charakterisiert ihn Karl Megerle: „Er ist beliebt und wird gerne getrunken!“
Der Schweizer Zoll musss überlistet werden
Das bekommt damals auch Johann Baptist Röhrenbach mit. Er ist interessiert an Fortschritten im Weinbau, und Freude erzählen begeistert von dieser Sorte. Boden und Klima rund um Schloss Kirchberg hält Röhrenbach für ideal, um die neue Sorte anzupflanzen - doch seine Chefs sind dagegen. Die sitzen im Rentamt der Markgrafen von Baden. „Er hat sein Anliegen vorgebracht, aber die haben abgelehnt“, erzählt Matthias Röhrenbach. Der Grund: Das Saatgutverkehrsgesetz. Damals wie heute dürfen Pflanzen, Saatgut und Setzlinge aus dem Ausland nicht so einfach eingeführt werden.
„Man musste es also illegal machen, denn die Brücke von Konstanz war vom Zoll bewacht“, schildert Röhrenbach die Überlegung seines Urgroßvaters. Zunächst unternimmt er eine Erkundungsfahrt, auf einem Zündapp-Motorrad. Dann entsteht die Idee einer Schmuggelfahrt über den Bodensee. „Sie haben das ausgeheckt beim Kartenspiel“, weiß Matthias Röhrenbach, nämlich beim Cego, dem traditionellen badisch-schwarzwälder Kartenspiel, das dem Tarock ähnlich ist.
Mit Johann Baptist Röhrenbach sitzt damals Fischer Josef Ainser aus Hagnau am Tisch. Die Männer beschließen, dass ihre Söhne Albert Röhrenbach und Gottfried Ainser in einer Nacht im April 1925 über den Bodensee rudern und die Reben holen sollen. „Sie waren getarnt als Fischer“, so Matthias Röhrenbach. Sie hätten Netze an Bord gehabt, Verpflegung – Wurst, Brot, verdünnten Most – und hätten sich spät abends von Hagnau aus auf den Weg über den See gemacht. Sie müssen vorsichtig sein, denn es gibt zu jener Zeit keinen freien Warenverkehr zwischen der Schweiz und Deutschland, und der Zoll hat ein strenges Auge auf Schmuggler von allerlei Waren – Schinken, Uhren, Schokolade, aber auch der in der Schweiz hergestellte und in anderen Ländern verbotene Süßstoff Saccarin.
Geheime Fracht unter Fischernetzen
Für den Weg über den See bis zur Konstanzer Bucht und weiter an das schweizerische Ufer unterhalb vom Arenenberg brauchen die zwei jungen Männer drei Stunden. Da hilft ihnen die Strömung vom Seerhein. Bei den Weinbergen der Landwirtschaftlichen Schule Arenenberg laden sie ihre geheime Fracht ein und stecken sie unter die Fischernetze. Dann geht es – nun zunächst gegen die Strömung des Seerheins - zurück über den See, wofür sie vier Stunden brauchen. Am nächsten Morgen kommen sie, wie Fischer, von der riskanten nächtlichen Fahrt zurück.
400 Profpreben der Sorte Müller-Thurgau haben sie dabei. „Aber es war kein Diebstahl“, stellt Matthias Röhrenbach klar, „die haben bezahlt, denn Schweizer machen selten etwas umsonst“. Nur wieviel Geld geflossen ist, das weiß keiner mehr. „Aber ich habe hohe Achtung und bin schon ein bisschen stolz darauf, was meine Vorfahren gemacht haben“, erklärt Röhrenbach, der mit seiner Tochter Rebecca nun selbst ein Weingut führt. Es sei eben damals „gegen das Gesetz“ gewesen.
Illegal ist zunächst auch der Anbau. Aber Johann Baptist Röhrenbach wagt es doch, an den sonnigen Hängen unterhalb des markgräflichen Sommersitzes, auf eigene Faust. Aber als der erste Müller-Thurgau ausgebaut, gekeltert und ausgeschenkt wird, bei den Gästen der Gutsschenke sehr gut ankommt und der Wein hohen Ertrag bringt, da akzeptieren, ja loben auch der markgräfliche Domänenrat und dann der Markgraf selbst den Schritt.
Vom Schloss Kirchberg ausgehend werden die Reben am ganzen Bodensee weiterverkauft und angebaut. Der Müller-Thurgau sei „einfach ein Lebensgefühl“, so Stephanie Megerle, Marketingmanagerin beim Winzerverein Hagnau und 2018/19 Badische Weinprinzessin. „Mit ihm kann man alles - weinen und lachen, festen und vespern“, sagt sie über den weit verbreiteten, blumigen Alltagswein.
Inzwischen ist der Müller-Thurgau auch nicht nur die am meisten angebaute Weißweinsorte am Bodensee. Von den weltweit etwa 10.000 Weinsorten zählt er zu den 70 dominierenden Sorten mit Anbau sogar in Japan und Neuseeland. Müller-Thurgau-Reben stehen laut dem Deutschen Weininstitut mit 10.738 Hektar (2023) in fast allen deutschen Anbaugebieten. Die größten Flächen sind in Rheinhessen und in Baden, gefolgt von der Pfalz. Aber angefangen hat alles mit einer waghalsigen Schmuggleraktion vor 100 Jahren.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/leben_artikel,-zeitreise-vor-100-jahren-rebenschmuggel-ermoeglicht-beliebte-weinsorte-_arid,2327780.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.mannheimer-morgen.de/orte/mannheim.html