Zeitreise

Mahnung zum Frieden

Vor 125 Jahren wird in Berlin die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche eingeweiht. Im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, bleibt die Ruine ihres Turms beim Neubau Anfang der 1960er Jahre erhalten – als Symbol gegen jede Form von Gewalt. Diese Botschaft ist heute aktueller denn je.

Von 
Konstantin Groß
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Berlin. Was das Wahrzeichen Berlins ist? Natürlich das Brandenburger Tor. Zumindest seit es 1989 wieder durchgängig ist. Und davor, als Berlin geteilt ist? Auch diese Frage lässt sich leicht beantworten: Wahrzeichen West-Berlins während der Teilung der Stadt ist die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Mit der Ruine ihres Turms und dem Neubau aus den 1960er Jahren verkörpert sie das Schicksal der Hauptstadt.

Ihr Ursprung führt zurück ins 19. Jahrhundert. Kaiser Wilhelm II. wünscht sich eine Kirche zu Ehren seines Großvaters und Vorgängers Wilhelm I. Ein angenehmer Nebeneffekt für ihn ist, dass damit irgendwie zugleich seiner gedacht wird. Denn wer mag unterscheiden, welchem Wilhelm die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gewidmet ist?

Am 22. März 1891 wird der Grundstein gelegt. Architekt Franz Schwechten (1841-1924) stammt aus Köln, und das merkt man: Sein Entwurf erinnert an die romanischen Kirchen des Rheinlandes, ans Bonner Münster und irgendwie auch an den Kölner Dom mit den unzähligen Türmchen und Zinnen.

Monumentales Bauwerk

Am 1. September 1895, dem 25. Jahrestag des Sieges über Frankreich bei Sedan 1870, erfolgt die Weihe der Kirche. Die Kosten betragen 6,5 Millionen Mark – das Zehnfache des Voranschlags. Derartige Teuerungen haben in Berlin also Tradition.

Das Bauwerk ist monumental, mit fünf Türmen, der größte misst 113 Meter. Das Innere bietet 1500 Sitzplätze und fast 2800 Quadratmeter Glasmosaike. Der fast schon katholische Schmuck stößt manchem Protestanten auf: „Ist es nicht schwer, zwischen Gold und Marmor gegen den Mammon zu predigen?“, heißt es. Über die Namensgebung nach einem weltlichen Herrscher mokieren sich die Katholiken.

Die fünf Glocken, gegossen aus im Krieg gegen Frankreich 1871 erbeuteten Geschützen, werden in Größe und Gewicht nur von jenen des Kölner Doms übertroffen. Ihre Lautstärke dringt in den nahen Zoo und bringt die dortigen Wölfe aus der Ruhe: „Lang hallendes Geheul und das heisere Bellen der Wölfe mischte sich in den Friedensgruß der Glocken“, wird berichtet.

Ohnehin neigen sich die Zeiten von Thron und Altar dem Ende. Die Gedächtniskirche sei Ausdruck einer „reglementierenden Staatsreligion, die als Moralpolizei auftritt und vor die sozialen Aspekte ihrer Zeit ihre reich verzierten Kulissen stellt“, beklagt der zeitgenössische Publizist und Kunstkritiker Karl Scheffler.

In den 1920er Jahren markiert die Kirche den Brennpunkt des Lebens – am Kurfürstendamm mit seinen Cafés und Bars, Kinos und Geschäften bis zum KaDeWe. „Bei uns um die Gedächtniskirche rum“, heißt denn auch eine Revue von Friedrich Hollaender. 36 000 Autos brausen täglich an der Kirche vorbei, vielen ist sie schlicht ein Verkehrshindernis. Sogar ein Abriss wird diskutiert.

Schicksalsnacht 1943

Doch das Schicksal des Bauwerks besiegeln nicht die Autos, sondern der Krieg. Vier der fünf Glocken werden am 7. Januar 1943 abgenommen und zu Rüstungszwecken eingeschmolzen. Lediglich die kleinste Glocke bleibt – vorerst zumindest.

Denn in der Nacht auf den 23. November 1943 wird das Gebäude Opfer britischer Bomben. Der Brand führt zum Zusammenbruch des Dachstuhls über dem Kirchenschiff und zum Abknicken der Spitze des Hauptturms. Doch die Mauern des Kirchenschiffs und des Chors bleiben stehen. Dass die Kirche zerstört sei, ist eine Übertreibung, die später für den Abriss herhalten muss. Denn als 1947 die Diskussion um einen Neubau entbrennt, fordern die Vertreter der Moderne tabula rasa. 1956 wird das Meiste unter dem Vorwand der Sicherheit für Passanten abgerissen, nur der Turm bleibt stehen.

Der Berliner Senat schreibt einen Architektenwettbewerb aus, den Egon Eiermann (1904-1970) gewinnt, Anhänger des „Einfachen“, des „Allgemeingültigen“, der „kon-struktiven Logik“. Dem entsprechen das Burda-Verlagshaus in Offenburg (1953-54), später das Neckermann-Versandhaus in Frankfurt (1958-61), das Büro-Hochhaus des Bundestags in Bonn (1965-69) und die Olivetti-Türme in Frankfurt (1972). In Berlin will Eiermann das mal an einer Kirche umsetzen, plant einen kompletten Neubau; die Turmruine ist für ihn „baukünstlerische Belanglosigkeit“. Das führt zu einem Sturm der Entrüstung. In Umfragen sprechen sich 90 Prozent der Berliner für den Erhalt des Turms aus. Eiermanns Entwurf dagegen wird als „Eierkasten“ mit „Streichholz“ verworfen.

Die Debatte endet mit einem Kompromiss, der weder die Kritiker noch den Architekten voll befriedigt. „Ich kann Ihnen verraten, dass der Bau der Kirche in Berlin mir meinen Herzinfarkt beigebracht hat“, sagt Eiermann später. Denn er muss umplanen. Die 71 Meter hohe Turmruine bleibt stehen, in die Mitte genommen von dem Neubau eines 53,4 Meter hohen Glockenturms in Form eines Hexagons und einer ebenfalls rechteckigen Kapelle.

Am 9. Mai 1959 erfolgt die Grundsteinlegung, am 17. Dezember 1961 die Einweihung – vier Monate nach dem Bau der Mauer ein Zeichen der Hoffnung. Die Berliner nehmen das neue Ensemble an, was sich daran zeigt, dass sie auch den Neubauten einen Spitznamen verpassen: Zum „Hohlen Zahn“ treten „Puderdose und Lippenstift“. Inzwischen gilt das Konzept allgemein als gelungen.

Das Charakteristikum in Innern bilden 20 000 Glasfenster aus Chartres. Sie verbreiten nicht nur einzigartiges Licht, sondern halten auch den Verkehrslärm des Ku‘damms draußen. Über dem Altar sieht Eiermann ein schlichtes Kreuz vor. Doch auch damit kann er sich nicht durchsetzen. Bischof Otto Dibelius platziert dort einen 4,60 Meter großen und 300 Kilogramm schweren Engel.

Die Welt draußen ändert sich. An Heiligabend 1967 drängen Studenten in den Gottesdienst. Ihre Plakate tragen Fotos von Kriegsopfern aus Vietnam und Bibelverse. Doch die Gemeinde, die dem Orgelspiel lauscht, zeigt kein Verständnis für den ungehobelten Appell an christliche Werte. Ihre Rufe lauten „Wascht Euch erst mal!“ oder gar „Raus Ihr Schweine!“ Studentenführer Rudi Dutschke, der die Kanzel erklimmt und mit „Liebe Brüder und Schwestern“ zu einer Rede anhebt, kommt nicht weit: Die Krücke eines Kriegsveteranen und ehemaligen SA-Mannes trifft ihn am Kopf und reißt eine 3,5 Zentimeter große Platzwunde. Blutend wird er ins Krankenhaus gebracht, während die Gemeinde „Oh, Du fröhliche“ intoniert.

Spiegel der Umgebung

Doch die „KWG“ ist eine Kirche inmitten einer Metropole, und die Gemeindepfarrer lernen, damit umzugehen. Bei Demos von Studenten oder Kurden wird die „Jesus-Garage“, wie der Kirchenneubau genannt wird, Schauplatz von Aktionen. Die Treppen ihres Podests sind Ende der 1960er Jahre Treffpunkt der Gammler, Anfang der 70er Jahre der Hippies, in den 1980er Jahren der Punks. In Sichtweite liegen der Ku‘damm mit seinem Nachtleben und der Bahnhof Zoo mit seiner Drogenszene, die es sogar zu Filmruhm bringt. Die Kirche und ihre Umgebung werden Symbol für den Niedergang des Westteils der geteilten Stadt.

Das ändert sich mit dem Mauerfall. In der Nacht vom 9. November 1989 erlebt die Kirche den Ansturm Tausender auf den Ku‘damm. Doch gerade die wiedergewonnene Einheit ab 1990 führt zu einem Bedeutungsverlust der Gedächtniskirche. Denn das Zentrum der Stadt verlagert sich in den Osten, der 1993 restaurierte Dom dort wird zur wichtigsten Stätte des Protestantismus in Berlin. Erst in den 2000er Jahren ändert sich das Bild – dank Projekten wie dem nahen Hotel Waldorf Astoria und eigenen Sanierungen.

Denn 2007 wird die Baufälligkeit der Turmruine festgestellt. Ursache sind Fehler bei der ersten Sanierung in den 1980er Jahren. Von 2010 bis 2014 erfolgt eine fachmännische Restaurierung für 4,4 Millionen Euro, von 2015 bis 2017 die Sanierung der Kapelle für 1,4 Millionen Euro, 2017 des Podiums für 2,4 Millionen. Dann steht die Renovierung des Turms von 1961 an. Die Kirche bleibt Daueraufgabe – wie ihre Botschaft: zum Frieden zu mahnen.

Informationen für Interessierte und Besucher

  • Die Gedächtniskirche ist eine der am meisten frequentierten Sehenswürdigkeiten Berlins – mit täglich zwischen 3000 und 10 000 Besuchern. Der Eintritt ist frei – trotz der gewaltigen Kosten zur Erhaltung der Kirche. Doch freier Zugang ist den Verantwortlichen angesichts der historischen Bedeutung wichtig.
  • Normalerweise ist die Kirche täglich ab 9 Uhr geöffnet. In der gegenwärtigen Pandemie jedoch sollte man die Öffnungszeiten tagesaktuell auf der Website der Kirche abrufen (www.gedaechtniskirche-berlin.de).
  • Seit 1987 ist in der Eingangshalle der Turmruine eine Gedenkstätte gegen den Krieg eingerichtet. Jeden Freitag um 13 Uhr wird hier das Versöhnungsgebet der Kathedrale von Coventry gesprochen. Die Gedenkstätte enthält ein Nagelkreuz von Coventry; die Nägel stammen aus den verbrannten Dachbalken der Kathedrale, die von der deutschen Luftwaffe 1940 zerstört wurde; die Darstellung des ähnlichen Schicksals der beiden Gotteshäuser soll zur Versöhnung mahnen. Gleiches gilt für das Ikonenkreuz der Russisch-Orthodoxen Kirche.
  • In der Kirche wird die Zeichnung einer Madonna gezeigt, gefertigt von einem Geistlichen an Weihnachten 1942 im Kessel von Stalingrad.
  • Am Aufgang zur Kirche befindet sich das Mahnmal mit dem Titel „Goldener Riss“: In die Treppenstufen sind die Namen der Opfer des islamistischen Attentats vom 19. Dezember 2016 eingelassen; damals kamen elf Menschen ums Leben, 67 wurden zum Teil schwer verletzt. Stets frische Blumen und Grablichter zeugen von anhaltender Trauer. Diese schlichte, dennoch eindrucksvolle Gestaltung unterstreicht die Symbolkraft der Gedächtniskirche als Mahnung gegen jede Gewalt. 

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