Beten in Beton

„Vater-Unser-Garagen“ hat man sie teilweise verspottet: Fast tausend neue Kirchen sind in den 1960er und 1970er Jahren in Baden-Württemberg als moderne Betonbauten entstanden. In Mannheim stehen einige besondere Exemplare, die das Landesdenkmalamt nun untersuchte.

Von 
Peter W. Ragge
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Gott sieht immer alles. Aber hier sehen die Gläubigen auch alles. Kiefern. Birken. Büsche. Gras und Laub. Auch mal ein Eichhörnchen. Im Wind wiegende Wipfel. Und darüber den Himmel. Eine herrliche, eine wunderbare Aussicht hat man von den Bänken der Pfingstbergkirche – es fühlt sich an, als säße man mitten im Wald. Und nicht ohne Grund lautet die offizielle Adresse „Waldblick“.

„Einzigartig“ nennt Melanie Mertens vom Landesdenkmalamt Baden-Württemberg dieses Gotteshaus – aus zwei Gründen. „Der Standort mitten im Wald ist ebenso einzigartig wie der Betonbau mit dieser kompletten Rundum-Verglasung“, so Mertens, „der die Natur in den Kirchenraum holt“. Das sei nicht nur für Mannheim und das Bundesland außergewöhnlich, „so konsequent ist diese vollumfängliche Verglasung nirgendwo in Europa realisiert“, betont Mertens.

Architektur und Natur

„Glaskirche“ nennt der Volksmund das Gotteshaus daher. Es entsteht an historischem Ort. In dem kleinen Wäldchen sollen zur Zeit der Gegenreformation, als im späten 16. und 17. Jahrhundert die katholische Kirche den neu entstandenen Protestantismus offensiv und teils gewaltsam wieder zurückzudrängen versucht, verfolgte evangelische Christen im Geheimen gebetet und Gottesdienste gefeiert haben.

1933, in der Zeit des Nationalsozialismus, entsteht in der Nähe die erste Kirche im Mannheimer Stadtteil Pfingstberg, wo viele Arbeiter des nahen Rangierbahnhofs wohnen. Am 25. September ist Baubeginn, bereits drei Monate später – am 18. Dezember – die Weihe des eilig in Leichtbauweise hochgezogenen Gotteshauses. Bei Bombenangriffen in der Nacht vom 8. auf den 9. August 1943 und an Pfingsten 1944 wird es aber zerstört.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzt ein Boom an Kirchen-Neubauten ein – auch in Mannheim. Für den Pfingstberg wird 1957 ein Wettbewerb ausgeschrieben und 1959 zunächst ein Gemeindehaus mit Pfarramt und Jugendräumen errichtet. Am 26. Mai 1962 ist dann Grundsteinlegung, am 13. Oktober 1963 Einweihung der neuen, auf einer kleinen Anhöhe platzierten Kirche mit dem frei stehenden, 24 Meter hohen Glockenturm.

Von Mutschler geplant

Geplant hat das lichtdurchflutete Bauwerk der Mannheimer Architekt Carlfried Mutschler (1926-1999), der als Sieger aus dem Wettbewerb hervorgeht. Bekannt ist er auch für viele andere prägende Bauten der Quadratestadt wie das Museum Weltkulturen im Quadrat D 5, das Stadthaus in N 1 oder die Multihalle. Für den Pfingstberg entwirft er eine „gläserne Kirche, bei der Innen- und Außenraum verschmelzen, Architektur und Natur eine harmonische Verbindung eingehen“, so Andreas Schenk, der Architekturfachmann vom Marchivum.

Tatsächlich nimmt man die riesigen, vom Boden bis unter das Betondach ragenden Fenster teils gar nicht wahr. Vier tragende und zwölf sehr dünne Betonpfeiler umgeben den quadratischen Bau. Durch diese transparent wirkende Hülle, so Melanie Mertens, gehe der Kubus quasi eine direkte Verbindung mit dem umgebenden Wald ein. Nicht die Glasscheiben, sondern die Kiefernstämme sollten den „eigentlichen Raumabschluss“ bilden, zitiert Mertens den Architekten Mutschler.

Er greife „die Idee der Durchdringung der Raummembrane, die in skandinavischen und amerikanischen Bauten weniger radikal vorgeprägt war, besonders früh und so konsequent wie in keiner zweiten Kirche auf“, bescheinigt die Denkmalpflegerin dem Architekten. Neben der Transparenz des Baus sei es eine Besonderheit Mutschlers, dass er „nicht nach architektonischer Dominanz strebt“, wie sie hervorhebt: „Die Dachkante bleibt deutlich unter den Baumkronen“ und der rauverschalte Sichtbeton bilde auf seiner Oberfläche den Wald ab.

Wer die Kirche über ein paar Treppenstufen betritt, der schaut zunächst auf eine Betonwand, gedacht als Sicht- und Hitzeschutz der dahinter befindlichen Orgel und der einzige nicht verglaste Teil der Fassade. Hier steht in großen Lettern der Text der Apostelgeschichte 2, Abs. 1-4 – also das Pfingstwunder („Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen. . .“), als alle Apostel vom Heiligen Geist erfüllt werden.

Hinter dem Altar ragen vier mit Löchern und Schlitzen versehene sowie teils modellierte Betonstelen aus dem Boden. Geschaffen hat sie der Stuttgarter Bildhauer Otto Herbert Hajek. Doch die gesamte übrige Ausstattung geht auf Mutschler zurück. Altar, Kanzel und Taufbecken sind aus Betonguss hergestellt und, wie Mertens sagt, bewusst „puristisch“ gehalten, damit nur Natur und Architektur ihre Wirkung entfalten können. Und diese Wirkung ist kurz nach der Entstehung der Kirche enorm. „Begeisterung“ habe es bei zeitgenössischer Architekturkritik gegeben, gerade über das „Phänomen der transparenten Kirche im Wald“, weiß Mertens. „Es gibt wirklich kaum einen Kirchenneubau in dieser Qualität aus den 1960er Jahren in Baden-Württemberg“, betont die Denkmalpflegerin.

Gläubige abgelenkt

Aber natürlich sei auch Kritik laut geworden, gerade aus liturgischen Gründen: „Dass ein Priester vor einer Glaswand steht, teils als Schattenumriss wahrgenommen wird, das gefiel nicht allen.“. Theologische Bedenken gibt es zudem, weil so viel umgebende Natur der Konzentration der Gläubigen auf den Gottesdienst nicht förderlich sei. Und doch – gerade wegen der Reize der Natur und des besonderen Bauplatzes sei die Kritik bald verstummt, die Pfingstbergkirche als „gelungener Einzelfall“ gelobt worden.

Als „gelungen“ gelten nämlich nicht alle Kirchenbauten jener Zeit. Fast tausend sind es, welche die Katholiken und die Protestanten zwischen 1960 und 1979 errichten. Rund 150 davon sind inzwischen denkmalgeschützt. Sie entstehen in einer Zeit, als es einen Babyboom gibt und zahlreiche Neubaugebiet aus dem Boden wachsen. Die Katholiken werden zudem vom Zweiten Vatikanischen Konzil beflügelt, das liturgische Reformen ermöglicht.

Das bevorzugte Baumaterial für alle Neubauten: Beton. „Es steht für Modernität, symbolisiert Befreiung vom Traditionalismus und Abkehr vom Dritten Reich, aber die Kriegsgeneration verbindet mit Beton auch immer die Bunker und den Schutz, den sie dort im Krieg gefunden haben“, erklärt Mertens, die den Nachkriegs-Kirchenbau für das Landesdenkmalamt umfangreich untersucht und daraus eine Wanderausstellung gestaltet hat.

Stil des Brutalismus

Sie beleuchtet darin jene Bauten, die in Deutschland unter dem Begriff „Brutalismus“ zusammengefasst werden – Sichtbetonbauten von monumentalen Ausmaßen und plastischer Schwere, „die unter völligem Verzicht auf stadträumliche Sensibilität die Ortszentren sprengen und den Massenwohnungsbau der Großstädte prägen“, so Mertens.

Freilich kommt der Begriff Brutalismus gar nicht von dem Wort „brutal“, sondern geht auf eine Gruppe junger britischer Architekten zurück, die Anfang der 1950er Jahre ihre architektonischen Vorstellungen selbst als „brutalist“ oder „Brutalism“ bezeichneten: Das Londoner Büro von Peter „Brutus“ Smithson und seiner Frau Alison Smithson, woraus als Kombination ihrer Vornamen Brutus und Alison dann „Brutalism“ wird.

Deutsche Begriffe indes sind nicht schmeichelhafter. „Vater-Unser-Garagen“, „Seelen-Reaktor“, „Glaubensbunker“, „Glaubens-Hangars“ oder „Gemeindesilo“ heißt es etwa in Presseartikeln anlässlich der Ausstellung „Kirchenbau in der Diskussion“ 1973 in München. Da werden spöttisch Parallelen zwischen den neuen Gotteshäusern und dem Westwall gezogen („als ob der Krieg längst noch nicht vorbei sei“) sowie die „Erfüllung des Traums von der Brutal-Architektur“ gebrandmarkt. „Wir können keine Dome mehr bauen, weil der Himmel nicht mehr Gottes Behausung ist“, bedauert ein anderer Autor, dass sich die „Kirche um jeden Preis als up to date zu artikulieren versucht“.

Tatsächlich gibt es in Deutschland Kirchen-Bauten aus Beton, die schon brutal wirken – mit massivem Äußeren, Klötze mit strenger, ja monotoner Formensprache. Ein Beispiel ist St. Josef in Stuttgart-Haslach, wo sich im Turmstumpf mit Glocken der Zugang zur Tiefgarage befindet – und der auch so aussieht. „Tresorartig verschlossener Kirchen-Schutzbau“, so die Beschreibung des Landesdenkmalamtes.

„Mannheim hat da echt Glück gehabt, da gibt es keine solchen Schwergewichte, keine richtig gewalttätig wirkenden Bauten“, hebt Melanie Mertens geradezu dankbar hervor. Zwar sei natürlich vor allem dort viel neu gebaut worden, wo viel zerstört war und wo es außerdem einen starken Zuzug von Menschen gab – sprich in Großstädten. Aber in Mannheim gebe es eine „Verdichtung hoher Qualität“.

Mut zur Moderne

Mertens führt dies auf viele gute Architekturbüros zurück und nennt als Beispiele Lange & Mitzlaff, Helmut Striffler, Carlfried Mutschler, Schlegel & Kargel. Es liege aber ebenso daran, dass die Bauherren, sprich die Kirchen, „die Moderne wollten“. Dass die Trinitatiskirche nicht nach dem konventionellen Entwurf von Christian Schrade wiederaufgebaut worden sei, sondern der bahnbrechende Entwurf von Helmut Striffler 1956 eine Chance erhielt, „war eine wegweisende Entscheidung, die dem gesamten evangelischen Kirchenbau der Stadt eine Marschrichtung vorgab“, so Mertens.

Eiermann-Schüler Mutschler habe für Pfingstberg, Lukaskirche und die Vogelstang jeweils „innovative Individualbauten“ entwickelt. Auch in der 1964 bis 1967 entstehenden Lukaskirche fungiert Otto Herbert Hajek als künstlerischer Partner. Hier bildet aber roher Beton den alleinigen Baustoff, gegliedert mit horizontalen und vertikalen Schalenabdrücken. Auch die Ausstattung – Altar, Taufblock, Kanzel – hat er fest betoniert, ein mit Hajek-Reliefs gestalteter massiver Glockenturm zieht hier die Blicke auf sich.

Für die Blumenau erhält Striffler, nachdem er mit der Trinitatiskirche viel Aufsehen erregt, 1959 den Auftrag. Bereits nach etwas mehr als einem Jahr Bauzeit, noch vor Abschluss der Arbeiten im Innern, erfolgt am 1. Dezember 1961 die Weihe durch Landesbischof Julius Bender. Auch hier befindet sich der Bauplatz, wie der vom Pfingstberg, am Waldrand, auf einem Eckgrundstück.

Zum Lobe Gottes

Aber man sieht von innen keine Bäume. „Außergewöhnliche Qualität“ bescheinigt Melanie Mertens dem Bauwerk dennoch: „Es wirkt wie eine Skulptur, hat assoziative Kraft“, formuliert die Denkmalschützerin. Es sei „eine Plastik aus einem Guss“. Das aufsteigende Dach erscheine wie ein Zelt, der spitzkantige Bau wie ein „Schiff, dessen Kiel sich einen Weg durch die See bahnt“, wobei der Turm an einen Dampfer-Kamin erinnere. Diese Bilder verwendet sie nicht ohne Grund, denn eine Wandmalerei im Innern stellt einen großen Fisch dar – das frühchristliche Symbol.

Aber das nahezu fensterlose Kirchlein, umgangssprachlich Blumenau-Kapelle genannt, gleiche auch einer Arche oder einem Schutzbau aus Beton, welcher die Gemeinde in Geborgenheit aufnehme. Trotz aller Kritik steht für Mertens daher fest: Beton sei „zum Lobe Gottes tauglich!“ Bedauerlich, ja ärgerlich nennt sie nur, dass durch einen 1986 angebrachten Anstrich, der die Sichtbetonfläche vor Korrosion schützen sollte, die ursprüngliche Struktur des Betons verlorengegangen sei. Da diese Schicht aber derzeit abplatze, biete sich die „Chance, die Qualität von Rauheit und Tiefe zurückzugewinnen“. Denn auch Beton habe eben einen eigenen Charme.

Gottesdienst und Ausstellung



  • Pfingstgottesdienst: Der evangelische Dekan Ralph Hartmann und sein katholischer Kollege Karl Jung gestalten in der evangelischen Pfingstbergkirche gemeinsam einen Pfingstgottesdienst. Die Feier wird aufgezeichnet, am Pfingstsonntag, 31. Mai, um 10 und 14 Uhr im Rhein-Neckar-Fernsehen ausgestrahlt und ist anschließend weiter in der RNF-Mediathek zu sehen.
  • Anschrift: Pfingstbergkirche, Waldblick 30, 68219 Mannheim.
  • Besichtigung: Von Außen jederzeit, Innen nur zu Gottesdienstzeiten, derzeit feiert die Gemeinde wegen der Corona-Pandemie aber nur in der ebenfalls zur Gemeinde gehörenden Versöhnungskirche.
  • Ausstellung: Von der Wanderausstellung „Zwölf! – Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne“ des Landesdenkmalamtes sind zwei der zwölf Gotteshäuser in Mannheim. In der Jonakirche auf der Blumenau war sie bereits. Derzeit sollte sie eigentlich in der Pfingstbergkirche zu sehen sein, doch ist der Termin wegen der Corona-Pandemie auf 2021 verschoben worden.
  • Broschüre: „Gotteszelt und Großskulptur. Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne in Baden-Württemberg“ Ausstellungskatalog in der Reihe Arbeitshefte Landesamt für Denkmalpflege, Thorbecke-Verlag, 30 Euro.
  • Jonakirche: Die Jonakirche Blumenau, Quedlinburger Weg 1, 68307 Mannheim, gehört zur evangelischen Dreieinigkeitsgemeinde Sandhofen. Gottesdienste sind üblicherweise samstags um 18 Uhr, derzeit aber dort nicht wegen der Corona-Pandemie. pwr

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