Wien. Ja, es gibt ihn: „den Moment“. Den Mantel der Geschichte, dessen Zipfel man ergreifen muss, um scheinbar Unmögliches zu erreichen. Für Deutschland ist dies dank Michail Gorbatschow 1989 der Fall und führt 1990 zur Einheit und vier Jahre später zum Abzug der russischen Besatzungsmacht aus dem Osten des Landes. Österreich hat dieses Glück bereits 35 Jahre zuvor: 1955, zehn Jahre nach Kriegsende, erhält es seine Unabhängigkeit zurück, ziehen die Siegermächte ab, auch die Russen, erstmals aus einem von ihnen erobertem Gebiet.
Deutsche und Österreicher - eine komplizierte Geschichte
Das hat eine lange Vorgeschichte. Denn ungeachtet von Sticheleien beim ESC („Germany? Zero points!“) oder Konkurrenz im Fußball haben keine Nationen so enge Bindungen wie Deutschland und Österreich. Jahrhunderte bilden sie einen gemeinsamen Staat, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. 20 seiner Kaiser und Könige stellen die Habsburger in Wien. Erst unter dem Ansturm Napoleons zerbricht diese Konstruktion, im 19. Jahrhundert bilden sich zwei getrennte Staaten: das Deutsche Kaiserreich und das Kaiserreich Österreich-Ungarn.
Gemeinsam verlieren sie den Ersten Weltkrieg, werden im November 1918 zu Republiken. Die österreichische, nach Loslösung ihrer Gebiete im Osten dramatisch geschrumpft, beschließt umgehend, sich der deutschen anschließen zu wollen, doch dies verbieten die Alliierten. So bleiben in den 1920er Jahren beide getrennt - und politisch und ökonomisch instabil. In Deutschland ergreifen 1933 die Nazis die Macht, in Österreich 1934 die Austrofaschisten, eine wenig moderatere Form.
Österreicher bejubeln „Anschluss“ an Hitler-Deutschland
Doch Hitler, selbst gebürtiger Österreicher (aus Braunau am Inn), genügt das nicht. Er will die Einverleibung Österreichs. Am 12. März 1938 überschreitet die Deutsche Wehrmacht die Grenzen, stößt dabei auf keinerlei Widerstand, sondern auf Jubel. Hunderttausende Wiener feiern Hitler auf dem Heldenplatz, als er am 15. März den „Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich“ verkündet. Bei Kriegsende sind 536.000 Österreicher Mitglied der NSDAP, 14 Prozent aller Erwachsenen, ein größerer Anteil als in Deutschland.
Gleichwohl werden die Österreicher nach Kriegsende sagen, sie seien „Hitlers erstes Opfer“ gewesen. Und das Erstaunliche: Die Alliierten übernehmen diese Sicht. In der Moskauer Deklaration von 1943 bezeichnen sie Österreich als „das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte.“ Seine Besetzung durch Deutschland 1938 werde nach Kriegsende rückgängig gemacht.
Besetzung des Landes durch die vier Alliierten
Am 13. April 1945 erobert die Rote Armee Wien. Die Amerikaner kommen von Westen; Anfang Mai ist ganz Österreich besetzt und wird wie Deutschland in vier Besatzungszonen eingeteilt. Die USA erhalten Salzburg und das südliche Oberösterreich, die Briten Kärnten, die Steiermark und Osttirol, die Franzosen Voralberg und Nordtirol, die Sowjets das nördliche Niederösterreich und das Burgenland. Wien wird wie Berlin in vier Besatzungszonen aufgeteilt, wobei die „Innere Stadt“, der I.Bezirk, gemeinsam verwaltet wird. Öffentlich sichtbar bei Patrouillen durch vier Soldaten der vier Mächte in einem Jeep, Hintergrund für den Filmklassiker „Der Dritte Mann“.
Das politische Leben organisiert sich neu. Am 29. April 1945 gründet sich eine Allparteienregierung aus Christlichen, Sozialdemokraten und Kommunisten. Doch deren Spielraum ist gering. Unter jedem vom ebenfalls neu gewählten Parlament beschlossenen Gesetz steht: „Diese Maßnahme tritt nicht früher in Kraft, als sie nicht die Genehmigung des Alliierten Rates erhalten hat.“ Auch die Minister-Ernennungen bedürfen seiner Zustimmung. Erstes Ziel der Politik daher: die Souveränität.
Tod von Stalin bringt Hoffnung auf Lösung des Problems
Dann kommt „der Moment“: Am 5. März 1953 stirbt Sowjetdiktator Josef Stalin. Sein Nachfolger Nikita Chruschtschow will das Zeichen einer neuen Politik setzen. Zudem ein Beispiel für Deutschland geben, die Bundesrepublik abhalten, sich militärisch dem Westen anzuschließen.
Am 24. März 1955 erhält die Wiener Regierung eine Einladung nach Moskau. Eine hochrangige Delegation aus Bundeskanzler, Vizekanzler, Außenminister macht sich auf den Weg. In einer sowjetischen Maschine, ausgestattet mit Perserteppichen, gehäkelten Wandbehängen, roten Plüschmöbeln. Auf den Tischen viel Wodka und Kaviar. Mit Schaudern erinnern sich die Reisenden noch lange, dass die Tür des Fliegers erst beim Startvorgang geschlossen werden kann, und zwar nur per Hand durch den Steward, einen russischen Unteroffizier.
Die Verhandlungen sind schwierig. Viele Unternehmen sind von den Russen konfisziert, so etwa die Donaudampfschiffahrtsgesellschaft und die Erdöfelder, auf denen jährlich drei Millionen Tonnen gefördert werden. Die Russen erreichen als Auslöse 150 Millionen Dollar.
Das wichtigste Problem: der militärische Status Österreichs. Zunächst verlangen die Russen, weiterhin eine symbolische Truppe von 5.000 Mann stationieren zu dürfen; das lehnen sowohl die Westalliierten als auch die Österreicher ab. Danach wollen sie das Wort Neutralität im Vertrag fixieren. Geschickt argumentieren die Österreicher, nur ein unabhängiger Staat könne seine Neutralität erklären. Also: Erst Souveränität, dann Neutralität. Auch damit können sie sich durchsetzen.
Fusion mit Deutschland ein für allemal ausgechlossen
Am Ende wird vereinbart: Österreich verpflichtet sich, keine Vereinigung mit Deutschland einzugehen, die Minderheitenrechte von Slowenen und Kroaten zu achten, das demokratische System zu erhalten, Wehrmachtssoldaten ab dem Rang eines Obersten nicht in sein Bundesheer aufzunehmen. Doch Österreich muss keine Reparationen leisten und keine Gebiete abtreten. Die Alliierten sagen zu, das Land zu verlassen. Bundeskanzler Julius Raab meldet aus Moskau nach Wien: „Wir bekommen unseren Heimatboden in seiner Gänze zurück!“
Am 15. Mai 1955 soll die Unterzeichnung des Vertrages durch die Außenminister der vier Mächte und Österreichs in Wien erfolgen. Am Vorabend kommt es zu einem letzten Treffen und zu einer historischen Veränderung. Österreichs Außenminister Figl gelingt es, seinen sowjetischen Amtskollegen Molotow zu überzeugen, aus der Präambel den Hinweis auf die Mitverantwortung Österreichs am Zweiten Weltkrieg zu streichen. Der Lebenslüge Österreichs vom „ersten Opfer Hitlers“ steht nichts mehr im Wege.
Aufregende Unterzeichnungszeremonie im Belvedere
Für den Tag danach steht die Unterzeichnung im Marmorsaal des Oberen Belvedere an. Ein Fotograf bricht sich ein Bein, als er auf dem glatten Boden ausrutscht. Der einzige Missklang. Der Vertragswerk ist von der selben Firma gebunden, die das schon mit der Schlussakte des Wiener Kongresses 1815 gemacht hat, wie Figl anmerkt, um die historische Kontinuität Österreichs zu unterstreichen. Am Ende seiner Rede ruft er aus: „Österreich ist frei!“
Mit den alliierten Ministern tritt er auf den Balkon, reißt den Staatsvertrag wie einen Pokal in die Höhe, was bei den Beamten Entsetzen auslöst: „Was passiert, wenn er ihn fallen lässt“, schaudert es einem. Die Minister winken, Molotow wirft sogar Kusshände in die Luft, das Volk von Wien jubelt, wieder einmal. Punkt 12 Uhr erklingen alle Glocken der Stadt. Bald darauf geht ein Wolkenbruch darnieder, die Masse zerstreut sich. Die Aufführung des Balletts der Staatsoper im Schlossgarten Schönbrunn wird daher abgesagt.
Infos und Tipps zum Schloss Belvedere Wien
Lage : Wien III. Bezirk. Ensemble aus zwei Schlössern: Unteres Belevdere im Norden und Oberes Belvedere im Süden, dazwischen großer Terrassengarten, damit eine der schönsten Barockanlagen der Welt.
Fertigstellung : Unteres Belvedere 1717, Oberes Belvedere 1723.
Geschichte: zunächst Sommersitz des Prinzen Eugen, nach dessen Tod Erwerb durch Kaiserin Maria Theresia 1752, ab 1776 im Oberen Belvedere Ort der Kaiserlichen Sammlungen (eines der ersten Museen der Welt), bis 1891. 1896 Sitz des Thronfolgers Franz Ferdinand bis zu dessen Ermordung 1914.
Neuzeit : Im Unteren Belvedere 1903 Eröffnung der Galerie für Moderne Kunst, 1918 Erweiterung auf Oberes Belvedere, 1938 Schließung der Galerie durch die Nazis. Im Krieg Bombenschäden, 1945 Wiederaufbau, 1953 Wiedereröffnung der Galerie im Oberen Belvedere. Im dortigen Marmorsaal 1955 Unterzeichnung des Staatsvertrages.
Heute : eines der führenden Museen weltweit. Werke vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Höhepunkte: weltweit größte Gustav-Klimt-Gemälde-Sammlung sowie prominente Werke des Wiener Biedermeier, des österreichischen Barock, der Epoche Wien um 1900 und des französischen Impressionismus.
Öffnungszeiten/Tickets/Kontakt : www.belvedere.at
Staatsvertrag : Original im Außenministerium Moskau, Faksimile im Haus der Geschichte, Wien, Hofburg (www.hdgoe.at).
Im 19. Septmber 1955 verlassen die letzten der 36.000 Sowjetsoldaten ihre Zone, am 25. Oktober die Westalliierten. Einen Tag darauf beschließt das Parlament wie versprochen die ewige Neutralität Österreichs - bis heute Verfasungsrecht. Der 26. Oktober ist Nationalfeiertag.
Den Österreichern gelingt es, so ein Bonmot, der Welt Glauben zu machen, Hitler sei Deutscher gewesen, aber Beethoven Österreicher.
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