Mannheim. Was muss das für ein Konzert gewesen sein, dessen Ekstase noch nicht einmal von der Ohnmacht einer Besucherin mitten während eines Stimmungshöhepunktes getrübt wird? Es ist die Premiere von Matthias Reim im Capitol - und die ist so viel mehr als ein Konzert, dass es selbst eingefleischte Anhänger stellenweise kaum glauben können. Die Spannung ist schon fühlbar, da hat der Schlagerstar noch keinen einzigen Ton gesungen - und sie ist allzu verständlich. Denn nach gefühlt endlosen Verschiebungen eines Termins, der bereits vor Ausbruch der Corona-Pandemie hätte über die Bühne gehen sollen, fühlen sich die Gäste dieses Abends wie nach einer langen Wüsten-Wanderschaft, der endlich der erlösende Gang zur Oase folgt.
Selbst Reim dichtet seinen 90er Jahre-Hit kurzerhand um und lässt ein restlos ausverkauftes Haus wissen: „Ich hab’ mich so auf euch gefreut!“ Dass diese Ausgelassenheit keineswegs Fassade ist, merkt man dem Protagonisten dieses Abends in jeder Regung an. Denn ein fast schon dauergrinsender Reim kostet die Resonanz hunderter Gäste nicht nur aus: Er formt sie. Er tanzt. Er klatscht sich ab. Und er singt, als habe es nie einen Grund gegeben, seine Tour in postpandemischen Zeiten durch schwere Krankheit erneut zu verlegen.
Ohne Zweifel wird von der Metapher der Musik als Heilmittel fast schon inflationär Gebrauch gemacht - doch wer statt Placebos von der echten Medizin kosten will, ist in diesen satten zweieinhalb Stunden genau am rechten Ort. Denn der 63-Jährige nutzt sein Mannheimer Konzert nicht nur als Bekenntnis zu biografischem Weg und Lebensphilosophie („Mein Leben ist Rock’n’Roll“) - von den dunklen Stunden seines Karriere-Knicks, die Reim in balladeske Schönheit kleidet („Wer nie durch Scherben ging“) bis hin zu brillant geschärften Gitarren-Soli der jüngsten Platte („Blaulicht“) weist der Sänger einen Weg der Entschlossenheit, den sein aufmerksames Publikum ebenso entschlossen wie begeistert mitgeht. Die „Euphorie“ muss Reim da gar nicht herbeisingen, sie ergibt sich fast schon von selbst.
Feine Akzente mit Soli
Das hat der Künstler - und davon kann man nicht genug sprechen - auch und ganz besonders seiner Band zu verdanken, die samt drei Background-Sängern in Kapellen-Größe nicht nur die nötige Klangmacht liefert, um Entfesselung zu verursachen, sondern in präzise arrangierten Soli auch immer wieder für feine Akzente sorgt. In Summe ergibt sich so scheinbar spielerisch ein Klangbett, das ein zunehmend selbst euphorisierter Matthias Reim zwischen Hoffnung („Im Himmel geht es weiter“), Zusammenhalt („Zwei wie Pech und Schwefel“) und Leidenschaft („Küssen oder so“) nur noch mit den Facetten seines Könnens füllen muss, um die Atmosphäre fast zum Überborden zu bringen.
Dazu kommt noch das fulminant gesungene Duett zum Cat-Stevens-Klassiker „Father & Son“, das Reim mit seinem Sohn Julian auf Deutsch interpretiert - und es gilt eines jener akustischen Abenteuer zu bilanzieren, das sich am Rande der Perfektion befindet, ohne dabei jemals Gefahr zu laufen, an Authentizität einzubüßen. Oder, um es in höchster Anerkennung mit den Worten der umjubelten Zugabe zu sagen: Verdammt, was für ein Künstler!
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