Politisches Journal

Warum machten Baerbock und Habeck nicht das Kanzlerinnen-Duo?

Von 
Stefan M. Dettlinger
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Wären Sie die ideale Kanzlerinnen-Spitze? Annalena Baerbock und Robert Habeck. © dpa

Jedes System ist nur so gut wie die Teile, die es am Laufen halten. Dieser Satz lässt sich tatsächlich universell verstehen und auf alles anwenden. Auf Maschinen wie auf Familien. Auf Firmen wie auf Gesellschaften. Oder auf Parteien und Staaten. Dass etwa die Doppelspitze beim Softwarekonzert SAP mit Jennifer Morgan und Christian Klein vor einem Jahr nach nur sechs Monaten scheiterte, lag wohl kaum am System. Es lag an Morgan und Klein, an ihrem Denken, Handeln und Zusammenwirken. Dass hingegen mehrere Intendanten – etwa in Stuttgart oder Mannheim – gleichberechtigt und erfolgreich ein großes Theater leiten können, steht dem entgegen. Herrschaft lässt sich also tatsächlich teilen.

Auch Annalena Baerbock und Robert Habeck beweisen das. Als Führungsduo von Bündnis 90/Die Grünen arbeiten die beiden Bundesvorsitzenden überaus erfolgreich zusammen und leben das, was man in Managerkreisen einen kooperativen bis demokratischen Führungsstil nennt – der Antipode autokratischer, autoritärer oder patriarchalischer Leitungsmodelle, wie sie heute im Grunde längst nicht mehr zeitgemäß sind. Wäre es da nicht logisch gewesen, wenn Baerbock und Habeck auch gemeinsam in den Wahlkampf um die Kanzlerschaft gehen würden und sich nicht auf eine oder einen von beiden einigen müssten?

Eine entsprechende Anfrage wurde im Vorfeld von Sprecherin Nicola Kabel aus der Bundesgeschäftsstelle folgendermaßen beantwortet: „Im Namen von Frau Baerbock danke ich Ihnen recht herzlich für Ihre Nachricht und Ihren Vorschlag. Unser Grundgesetz sieht jedoch nur ein*e Bundeskanzler*in vor. Eine Grundgesetzänderung würde eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat notwendig machen. Daher sehen wir auf absehbare Zeit keine realistischen Chancen auf eine Umsetzung Ihres Vorschlags.“

Eine Form von Top-Sharing

Man hatte offenbar darüber nachgedacht. Und tatsächlich steht in Artikel 62 des Grundgesetzes immer noch: „Die Bundesregierung besteht aus dem Bundeskanzler und aus den Bundesministern.“ Eine Bundeskanzlerin ist ohnehin nicht vorgesehen, genau so wenig wie Bundesministerinnen. Eine Novellierung des Wortlauts wäre dringend notwendig und hätte – allerspätestens seit der Ära Merkel – längst erfolgen können. Das wäre im Grunde ein Minimum an Gender-Selbstverständnis im Jahr 2021. Mit anderen Worten: Auch dafür würde es eines Bundestagsbeschlusses mit Zweidrittelmehrheit bedürfen.

Die ideale Regierung, so könnte man wiederum sagen, gibt es so wenig wie die ideale Führung – oder wie das Ideale schlechthin. Es gibt sogar ein Führungssystem, das genau diesen Umstand beschreibt: der dreidimensionale Führungsstil, auch 3D-Führungskonzeption genannt. Sie beschreibt, dass, je nach der zu bewältigenden Aufgabe und den Menschen, die sie leisten sollen, der eine oder andere Leitungsstil der bessere weil effektivere sein kann oder ist. Flexibilität als Credo.

Natürlich trifft auch eine Bundeskanzlerin Angela Merkel heute keine einsamen Entscheidungen. Im Bundeskanzler(innen)amt arbeiten an die 600 Menschen in sieben Abteilungen – inklusive drei Staatsministerinnen, einem Staatsminister sowie einem Staatssekretär. Mit diesem Argument könnte man versuchen, das Pro für die geteilte Macht zu negieren. Aber eines tut sie am Ende eben doch allein: die Leiterin einer Regierung sein und diese zu führen.

Tatsächlich sind auch die Spitzenduos bei der SPD mit Saskia Eskens und Norbert Walter-Borjans, bei der AfD mit Alice Weidel und Alexander Gauland sowie der Ökopartei mit Baerbock und Habeck politisches Neuland. Warum also nicht auch diesen Schritt auf Regierungsebene wagen als Form eines Top-Sharings, bei dem zudem ein neues Verständnis von Macht gelebt wird, das die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sicherlich fördert – wo es sich doch so sehr anbietet bei diesen Personalien? Möglicherweise hätte man auf diese Weise gar die Wahl gewinnen können. Baerbock selbst schwärmte in einem Interview mit der „Welt am Sonntag“ schon 2019: „Doppelspitze heißt für mich doppelt stark – wenn man, wie Robert Habeck und ich es tun, nicht untereinander wetteifert, wer der Schönste und Beste im Raum ist, sondern die doppelte Kraft für die Sache einsetzt.“

Doppelte Kraft hätte hier heißen können: geteilte Macht, effiziente Aufgabenteilung, Austarieren von Temperamenten und Interessen. Habeck steht für Nachdenklichkeit und Dialog, Baerbock für direkte Ansprache und Selbstbewusstsein. Also nicht direkt die Weisheit der Vielen, wohl aber die des Duos, das immerhin doppelt so viel ist wie die Solistin – und Gendergerechtigkeit samt Quote wären gleich mit erledigt.

Langsames Bohren harter Bretter

Verfechter einsamer und eher autokratischer Macht werden entgegnen: Der Nachteil demokratischer Führung ist, dass die Entscheidungsfindung mehr Zeit beansprucht. Vielleicht erleben wir das gerade, wenn die Kanzlerin nachts mit den Länderchefinnen und -chefs zusammensitzt und keine Einigung erzielt werden kann. Nicht immer aber haben wir pandemische Zeiten. Und die beste Entscheidung ist selten die schnellste. Im Gegenteil: Von Max Weber stammt der berühmte Satz, Politik sei „ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“. Vielleicht bohrt und misst es sich zu zweit einfach besser. Allerdings: Auch jede Bohrmaschine ist nur so gut wie die Teile, die sie am Laufen halten.

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

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