Schwetzingen. Da steht er im Nebel: Jesse, mit seinen nach hinten gebundenen blond gefärbten Dreadlocks. Starrt ins Publikum. Zu melancholischen Streicherklängen beklagt Dinah Washington „This Bitter Earth“. Fast hoffnungsvoll endet der Song, wenn laut Text „nach all dem“ die innere Stimme endlich laut wird. Wie gut das zu Harrison David Rivers‘ gleichnamigen, 2017 entstandenem Schauspiel passt, das jetzt im Schwetzinger Theater am Puls seine deutschsprachige Erstaufführung erlebt, begreift man erst am Ende. Nach der dreijährigen Lovestory zwischen dem weißen privilegierten Neil, der seine diffusen Schuldgefühle in der Black-Lives-Matter-Szene zu kompensieren versucht, und dem intellektuellen, introvertierten Afroamerikaner Jesse, der lieber schriftstellert, als auf der Straße gegen Ungerechtigkeit und weiße Polizeigewalt kämpft.
Eine unkonventionelle Liebe in unruhigen Zeiten
Es ist die Zeit der Rassenunruhen während der Obama-Präsidentschaft. Im New Yorker West Village lernen sich die beiden Männer beim Million Hood March 2012 kennen. Nachdem white boy Neil im rosa Blouson eindrucksvoll ein Gedicht der Black-Gay-Men-Ikone Essex Hemphill ins Megaphon performt hat. Aus anfänglichem Flirt – man sieht diese Szene insgesamt dreimal – entsteht eine tiefe Beziehung. Zwischen zwei Menschen aus unterschiedlichen Milieus, mit unterschiedlicher Sozialisation und unterschiedlichen Temperamenten. Erzählt wird die tragikomische Homo-Story temporeich, sympathisch, witzig. Zudem nicht chronologisch, was die Komplexität der Beziehung unterstreicht. Schlaglichtartig taucht man ein in die komplizierte Welt amerikanischer Homosexueller unterschiedlicher Hautfarbe: Rückblicke, Gespräche, tiefsinnige Monologe, coole R&B-Musik und dokumentarische Filmausschnitte. Amüsant der Blick auf Neils tuntig gemachte Instagram-Videos im Einhorn-Kostüm. Zur Figur wollen die allerdings nicht so recht passen.
Konflikte zwischen Aktivismus und innerer Zurückhaltung
Doch immer wieder gibt es Streit. Etwa nach irritierenden Elternbesuchen, provokativem Bettgeflüster, vor allem aber wegen Neils manischem Aktivismus in der BLM-Bewegung. Während er zu allen Tatorten weißer Gewalt gegen Farbige reist - das Namedropping von Namen und Ereignissen hätte man durch ein erklärendes Programmheft erleichtern können -, verweilt Jesse apathisch am Schreibtisch, sinniert über Identität und Glaube. Neil ist der Charakter, der alles impulsiv aus sich herausschreit. Jesse dagegen frisst Wut und Aggression kontrolliert in sich hinein. Klischees will er zwar nicht bedienen, tut es dennoch, wenn er die Wohnung putzt und aufreizend mit dem Hintern wackelt. Konsequent beantwortet er Neils Fehltritt mit einem Weißen durch Rauswurf und Trennung.
Regisseur Joerg Steve Mohr inszeniert den Balanceverlust der beiden Männer (in Teresa Ungans Ausstattung) immer intensiver, immer quälender. Erst Jesses blankes Entsetzen über das Massaker von Charleston 2015 führt zur Versöhnung. Der sinnlos blutige Gewalt folgt. Benjamin Martins (Neil) und Leandro Labantey (Jesse) zeichnen ihre Figuren anrührend authentisch. Die so locker wie natürlich klingende Übersetzung aus dem Amerikanischen von Benjamin Martins tut ein Übriges. Am Ende der Geschichte schreit Jesse - jetzt mit offenen Haaren - seine Gefühle laut heraus. Endlich. Er hat wahre Liebe kennengelernt.
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