Jetzt ist es also so weit“, sagt Caro, „morgen geht das ganze Abendland im glitzernden Rausch des Kuschelns unter. Zuerst fressen sich die Leute die Bäuche noch dicker, dann beschenken sie sich mit dem – mit in Afrika erbeuteten Rohstoffen vollgestopften – Elektronikschrott von Morgen, trällern tränenduselig „Stille Nacht“ und liegen sich, sonst spinnefeind, für den Hauch eines Moments, in dem ihr real existierender Hass einen Blackout hat, in den Armen. Ist es das, was ihr wollt?“
Alya stöhnt. Bela atmet laut. Ich sage: „Kannst du nicht einmal still halten und friedlich sein?“
Ja, so wolle man immer alle haben, die ihre Meinung offen sagen, die ansprechen, was angesprochen werden müsse: „brav und angepasst“, sagt Caro. Und wenn Weihnachten irgendwelche Konsequenzen auf die moralischen Verhaltensweisen der Menschen nach Weihnachten hätte, dann wäre sie sogar dafür und würde mitfeiern. Sogar mit Plätzchen, sagt sie: „Nicht aber, solange Weihnachten nicht weniger ist als der Orgasmus des Kapitalismus!“
„Der will halt auch mal seinen Spaß haben“, meint Bela, nuckelt genüsslich an seiner Coca-Cola (Zero Sugar) und unterdrückt dann gekonnt einen kleinen Rülpser. „Im Ernst“, sagt er, „hast du überhaupt keinen Respekt vor den Gefühlen der anderen? Es gibt nun mal Menschen, denen Weihnachten etwas bedeutet. Punkt. Da kannst du nicht mit deiner Moralguillotine kommen und alles köpfen, was ans Gute im Menschen glaubt!“ Es sei doch, regt Caro sich auf, alles ganz anders, man wolle das Gute und schaffe das Böse, es sei wie in der Kirche überhaupt. Scheinheiligkeit und Abfall, das ist es, was festlich geschaffen würde.
Das ist schon krass, fast ist es verwunderlich, dass Alya, Bela und ich nicht ausrasten. Alya sagt dann auch: „Caro, du tust mir echt leid mit deiner Illusionslosigkeit.“
Ich muss sagen, Leute, die glauben, haben es heute echt nicht leicht. Klar, vieles, wenn nicht alles spricht dagegen. Vor allem die Wissenschaft. Zumindest dachte ich das lange. Aber neulich habe ich bei Navid Kermani gelesen, dass es vor allem unter Physikern und Mathematikern (ausgerechnet) eine höhere Konzentration an Gottesgläubigen gibt. Viel höher als bei Soziologen oder Psychologen. Gerade die Wegbereiter der Quantenphysik hätten irgendwann fast alle zur Religion gefunden. Laut Kermani, der dann auch noch Einstein zitiert: „Jene mit einem tiefen Gefühl verbundene Überzeugung von einer überlegenen Vernunft, die sich in der erfahrbaren Welt offenbart, bildet meinen Gottesbegriff.“
Vielleicht liegt das daran, dass Mathematiker und Physiker trotz ihrer unfassbaren Fähigkeiten doch so etwas wie Liebe nicht erklären können, Gefühle überhaupt, die letztlich zwar keine Materie sind, also nicht Gewicht haben und Raum einnehmen, die aber doch irgendwie in Materie abgespeichert sein müssen. „Caro“, sage ich, „entdecke dich selbst, schau in den Spiegel und die Schriften. Religion oder Spiritualität sind keine Lösung. Aber keine Religion und Spiritualität sind auch keine Lösung. Tschüss, viel Spaß beim Trübsal blasen, du unverbesserliche Schabracke.“
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