Corona-Debatte

Die nächste Pandemie hat schon begonnen - es ist die Angst

Von 
Klaus Kufeld
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Ein Gespenst geht um in Europa und der Welt. Das Coronavirus versetzt die einen in Angst und Schrecken, die anderen lähmt es. Der Lernerfolg aus einem Jahr mit COVID-19 und seinen Vorläufern AIDS, Ebolafieber, Spanische Grippe, Cholera und Pest ist kläglich. Das hybride Denken, dass der Mensch – nach Herder – „ein über sich, ein weit um sich schauendes Geschöpf“ ist, das sich der Natur überlegen fühlt, ist zwar ins Schwanken gekommen; gleichwohl wähnt sich der moderne Mensch als unantastbar.

Der ungebremste Technikfortschritt suggeriert gefährliche Sorglosigkeit. Und jede lebende Generation schreibt ihre pandemische Geschichte neu. Die Wissenschaft weiß natürlich, dass jeder Mensch mit Billionen von Parasiten lebt, und das im Allgemeinen nicht schlecht. Aber wie dieses Wissen in politisches Handeln umschlägt, gelingt eher selten.

Wird die Gesellschaft heruntergefahren?

Das Glück des Impfstoffs weist auf das Licht am Ende des Tunnels, mehr aber auch nicht, denn die Bevölkerung befindet sich noch mittendrin. Noch vor einem Jahr bewegte den Autor dieser Zeilen die Sorge, ob mit Corona die Globalisierung heruntergefahren wird. Heute wissen wir, dass sich manchem nicht unwillkommene Parallelwelten herausgebildet haben, national und global.

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Ein inkohärentes Mosaik von Ausgangssperren, Reiseverbot, Abschottung und unterbrochenen Lieferketten lässt die Menschheit eher wieder auseinanderdriften und sich mit dem Verordnungsdurcheinander ausbremsen. Aus heutiger Sicht kommt noch eine Dimension obendrauf, die sich besonders für Deutschland und seine Bürger verheerend auszuwirken beginnt. Denn: Wird mit der Unabsehbarkeit der Pandemie nicht gerade unversehens die Gesellschaft heruntergefahren? Worauf blicken wir zurück außer auf Lockdown (Einschließung), Abstand und Schutzmaskierung? Die Menschen sind in ihrer Not durchaus erfinderisch geworden, manche Digitalkonferenz überbrückte Distanzen, neue Kulturformate wurden generiert, das Spazierengehen erlebte seine Renaissance.

Von der Politik allerdings durfte statt nur Reaktives schon mehr Proaktives erwartet werden, aber diese hatte ein Jahr lang keinen Plan, geschweige denn eine Strategie. Wobei die Fülle von Geboten und Verboten einen Plan zu haben nicht ersetzen kann, im Gegenteil: Man hat ein Jahr vor sich hin gehudelt, statt Strategien zu verfolgen. Bei manchen Politikern scheint sich gar ein Gebaren durchzusetzen, an der restriktiven Verwaltung der Krise sogar Gefallen zu finden, zumal der Weg mit dem Zeigefinger als der entschlossenere erscheint. Wie auf einem Tummelplatz der Eitelkeiten zwischen Bundeskanzlerin, Ministerpräsidierenden und Parlamenten, wo sich alle ausstechen und die Krise zerreden. Das Schlimmste: Die Angst regiert mit – und die ist auch ansteckend.

Demokratie in Gefahr

Derweil gerät Deutschland (und mit ihm Europa) global mehr und mehr ins Hintertreffen. Sicherheit frisst Freiheit. In Südkorea, Taiwan und Australien wird längst wieder getanzt, als Lohn für einen harten und auf Regionen mit hohen Infektionszahlen beschränkten Lockdown und mutige, durchdachte Verfolgung per App. Hierzulande befinden sich die Staatsorgane eher im Dauerkatastrophen- als im Regulierungsmodus, eher in Panik als in Besonnenheit. Die Seuche treibt die Politik vor sich her. Im Grunde findet die Schockstarre gar kein Ende. So sind wir auf dem besten Weg, unsere Gesellschaft implodieren zu lassen – auf Kosten ihrer Bürger. Sehenden Auges blicken wir auf geschlossene Theater und Gastronomie, Reisen finden praktisch nicht statt. Der demokratische Zusammenhalt nimmt Schaden.

An dieser Stelle, wo wir von Dauerentbehrungen, geistiger und kultureller Unterernährung, Vernachlässigung von Senioren, Parallelbelastungen in Familie, Homeschooling und Homeoffice, Kontaktversagung sprechen, gerät das demokratische Miteinander in Gefahr. Bürger, die sich nicht wehren können und wie gelähmt zurückgelassen werden, lassen sich das für die Zeit der Krise vielleicht noch gefallen. Aber in absehbarer Zeit werden sich gewaltige Staus gebildet haben, die sich auch wieder auflösen müssen, im schlimmsten Falle explosiver als uns lieb sein kann.

Es ist nicht auszuschließen, dass die Rechtspopulisten davon langfristig profitieren werden. Was auch soll das Volk davon halten, dass gerade in einer Zeit von wieder steigenden Inzidenzen „vorsichtig“ gelockert werden soll – nicht ohne die Drohgebärde der Zurücknahme. Wahlkampfkalkül? Die Demokratie ist dort in Gefahr, wo der Staat der sozialen Fürsorge zum Leviathan wird, zum Wolf im Schafspelz. Ein solcher Staat ist zwar weit entfernt davon, totalitär zu sein, aber er spielt seine Macht zunehmend hilflos aus.

Oder wie sollen wir es nennen, wenn „weite Teile der Hotellerie und Gastronomie, der Kultur und des Handels faktisch mit einem fortgesetzten Berufsverbot“ belegt werden, wie die „NZZ“ schrieb. Es zeugt von einem vor die Hunde gehenden Demokratieverständnis, wenn Politik die Augen vor der unantastbaren Würde des Menschen verschließt. In dieser Stimmung wagt es niemand, schon aus Ehrfurcht vor den Toten, von der Würde der lebenden Menschen zu sprechen, will er nicht als Verschwörungstheoretiker hingestellt werden. Wolfgang Schäuble hat es zu Beginn der Pandemie gewagt, aber ist bald verstummt.

Systemrelevanz und Doppelmoral

Die Doppelmoral der politischen Vorgaben ist himmelschreiend, weil im höchsten Maße ungerecht: Einkaufszentren gegen kleine Blumenläden, Tummelplätze auf Wochenmärkten gegen Bekleidungsgeschäfte, Abschottung der Lieben im Altersheim gegen Umarmungsorgien in der Bundesliga, Brötchenkaufen gegen Schulbesuch, Daheimbleiben gegen Reisen laufen auf ein Gegeneinanderausspielen der Bevölkerung hinaus. Die einen offen, die andern zu. Mit Logik ist dem nicht beizukommen. Die merkwürdige Ohnmacht der Macht zeigt sich in abstrakten Kriterien wie Systemrelevanz oder Verhältnismäßigkeit. Was soll das, die arbeitenden Elemente in der Gesellschaft in wichtig und weniger wichtig einzuteilen! Welches Maß wird hier genommen? Sollen wir den ganzen Schwarm von Maßnahmen, die alle wie Tugenden daherkommen sollen, als pluralistische Demokratie verstehen, als Vielfalt und Recht der Meinungen? Nein, was es nicht braucht, ist eine von Virologen abgesicherte und als Not-Maßnahmen getarnte Politik der Vorschriften, sondern Menschlichkeit, ein Gefühl für die Volksseele.

Die Utopie des öffentlichen Glücks

Was dem Staat und seinen Akteuren fehlt, ist eine langfristige, auf pandemische Verhältnisse ausgerichtete Gesundheitsutopie. Diese Zukunft hat bereits gestern begonnen. Das wäre verantwortliche Daseinsvorsorge. An dieser Stelle könnten sogar Pandemie- und Klimapolitik ineinandergehen. Dies bedeutet aber eben nicht, die Reinheit zum Maß aller Dinge zu machen. Denn es wird niemals gelingen, virusfrei zu leben, weil gewisse Risiken zum Leben gehören. Schließlich leben wir auch mit AIDS, Malaria et cetera weiter, ohne Impfstoffe zu haben. Von Krebs ganz zu schweigen.

Insofern setzt die gesamte politische Pandemiedebatte am falschen Lösungsende an, einmal davon abgesehen, dass sie viele wichtige Themen ein ganzes Jahr nicht mehr vorkommen lässt. Was die Gesellschaft(en) brauchen, ist ein völlig neues Verständnis von Würde, das öffentliches Glück (Hannah Arendt) einschließt. „Gesundheit ist überhaupt nicht nur ein medizinischer, sondern überwiegend ein gesellschaftlicher Begriff“, sagte Ernst Bloch. Die Utopie, die hierbei gerne vergessen oder verdrängt wird, heißt Sozialhygiene. Dabei geht es weniger um die Betriebe (denen vom Staat geholfen wird und dessen Schulden auf kommende Generationen verschoben werden), als um die Menschen selber und darum, wie motiviert sie aus der Krise hervorgehen.

Der Mensch wird erst als soziales Wesen zum Menschen; als sozial wahrgenommenes und ernstgenommenes und mitgenommenes Wesen fühlt er sich – nicht verwaltet. Dazu braucht es ein neues Verständnis von Glück, etwa wie Goethe sagte: „Der Mensch ist nicht eher glücklich, als bis sein unbedingtes Streben sich selbst seine Begrenzung bestimmt.“

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